Allein mit Mozart

Seit Jahren liegt eine sterbenskranke Frau ermattet in ihrem Bett und ist darauf angewiesen, dass andere sich um sie kümmern. Eine Bewährungsprobe für die Pflege.

Text: Thomas Becker
Fotos: Gerald Biebersdorf

Da liegt sie, seit Jahren schon, und zeigt kaum Regung. Vielleicht träumt sie, vielleicht döst sie vor sich hin. Was in Alina Morsbach* vorgeht, weiß niemand so genau. Der 89-Jährigen fehlen die Worte und die Kraft, davon zu erzählen. Wenn überhaupt, stößt sie ein „Mama“ oder „Papa“ aus, und auch das sehr selten.

Über die Lautsprecher des CD-Spielers in ihrem Zimmer erklingen Klavierouvertüren von Mozart. Ob ihr die Musik gefällt, die Pfleger für sie ausgesucht haben? Ob sie je Mozart gehört hat? Alina Morsbach hat es vermutlich vergessen, wie so vieles. Sie ist in einem fortgeschrittenen Stadium an Demenz erkrankt, kann nicht mehr reden. Außerdem ist sie bettlägerig, sie kann keinen Schritt mehr tun, nicht einmal die Arme heben. Selbst wenn es ihr möglich wäre, würde sie die Knöpfe nicht finden, um den CD-Spieler zu bedienen. Alina Morsbach ist fast blind.

Ihre Wangen treten unter der altersgefleckten Haut hervor; sie ist dünn wie Pergament und reißt bei leichtem Druck. Ihre faltigen Lippen wölben sich ins Innere des Mundes. Ab und zu stößt die alte Frau röchelnde Laute aus. Mal zuckt ihr linkes, mal ihr rechtes Bein. Es wirkt bei jedem Mal wie ein letztes Aufbäumen, ein letztes Zucken. Als wäre danach Schluss.

Aber Alina Morsbach ist zäh. Seit gut zehn Jahren lebt sie im Katharina-von-Bora-Haus, einem Pflegeheim der Diakonie Düsseldorf, und seit mehr als einem Jahr liegt sie so ermattet da. Ihr Mann ist verstorben, sie hat keine Kinder. Angehörige oder Freunde haben sie in all den Jahren, die sie im Pflegeheim lebt, nicht besucht, und angesichts ihres Zustands fragen sich selbst Pflegende: Ist ihr Leben überhaupt noch lebenswert?

Sie selbst kann darauf nicht antworten. Ihre Sprache ist versiegt. Es liegen auch keine schriftlichen Äußerungen über ihre Einstellung zum Leben vor. Als sie ins Pflegeheim kam, war sie bereits dement und konnte dazu nicht mehr befragt werden. Und so liegt es in der Hand von Pflegenden und Betreuenden, sich um sie zu kümmern, ihr das Leben so angenehm wie möglich zu machen. Und auch das Sterben.

Pflegeheim (4)Es ist ein besonderer Fall, der vor Augen führt, wovor viele Menschen Angst haben: im hohen Alter regungslos dazuliegen und anderen ausgeliefert zu sein. Und dann auch noch in einem Pflegeheim: Der Ruf der Branche ist nicht gerade der beste. Die Betreuungsschlüssel seien zu gering, Mitarbeitende ausgelaugt und schlecht geschult, Bewohner würden mehr verwahrt als gepflegt, sagen Kritiker. „Lieber tot als im Pflegeheim“ – ein weitverbreitetes Credo.

Christine Nedic kennt diese Ängste. Die 63-Jährige ist eine von mehreren Betreuungsassistentinnen, die Alina Morsbach zugeteilt sind. Sie kümmert sich um alles, was neben der Pflege in ihrem Alltag wichtig ist. Sie ist zudem ausgebildete Sterbebegleiterin, eine resolute Frau, die mit ihrer Meinung nicht hinterm Berg hält. „Früher habe auch ich gesagt: Bevor ich ins Pflegeheim gehe, springe ich lieber aus dem Fenster.“ Heute, nachdem sie so viele Menschen betreut und im Sterben begleitet hat, sagt sie: „Ich habe keine Angst vorm Sterben, auch nicht in einem Pflegeheim. Weil ich weiß, was ich will.“

Ein Gefühl von Sicherheit gibt ihr die Patientenverfügung, die sie verfasst hat. Darin steht, dass im Krankheitsfall keine Maßnahmen eingeleitet werden sollen, die ihr Leben mit Mitteln der Hochleistungsmedizin verlängern. Eine Magensonde, die sie künstlich ernährt, soll bei ihr beispielsweise nicht mehr gelegt werden, stellt sie sich vor. Ärzte müssen diesem Wunsch folgen. Tun sie es nicht, wird das laut einem Urteil des Bundesverfassungsgerichts aus dem Jahr 2009 als Körperverletzung gewertet.

„Außerdem gibt es heutzutage eine gute palliative Versorgung“, meint Christine Nedic. Schmerzen ließen sich dadurch erheblich mindern. „Es gibt wirksame Medikamente, ich habe keine Angst vor Schmerzen“, sagt die Sterbebegleiterin. Falls sie selbst einmal dement würde oder aus einem anderen Grund nicht mehr für sich selbst sorgen könne, sei allerdings eine gute Pflege wichtig. „Dazu gehört, einen Menschen zu akzeptieren, wie er ist, und ein Gespür dafür zu entwickeln, was gut für ihn ist“, sagt sie. Im Katharina-von-Bora-Haus, mit rund 80 Bewohnerinnen und Bewohnern eine vergleichsweise kleine Einrichtung, sei das möglich.

„Wir haben einen kontinuierlichen Stamm von Mitarbeitenden und zudem Ehrenamtliche, die uns unterstützen“, sagt Pflegedienstleiterin Karin Orth. „Täglich tauschen wir uns in einem Team aus Pflegern, Ärzten und Betreuern aus.“ Wichtig sei, dass Mitarbeitende einzelnen Bewohnern langfristig zugeteilt seien und nicht ständig wechselten. „So kann eine persönliche Beziehung entstehen.“ Die wiederum sei neben der fachlichen Expertise die Grundlage für das, worauf es letztlich ankomme: das Feingefühl im Umgang mit zu pflegenden Menschen.

Drei Viertel der Bewohner sind an Demenz erkrankt und können ihre Wünsche nicht mehr verbal äußern. „Da ist es besonders wichtig, andere Formen der Kommunikation zu finden“, sagt Karin Orth. In Fachkreisen ist oft von der „basalen Kommunikation“ die Rede – eine Kommunikation jenseits der Worte, bei der Gestik und Mimik eine wichtige Rolle spielen und auch die Fähigkeit, minimale Zeichen zu erkennen und als Indikator für das Befinden zu deuten. Auch bei Alina Morsbach ist diese Art der Kommunikation gefragt. „Wenn man genau hinschaut, sie beobachtet und abwartet, bekommt man schon einen Eindruck davon, wie es ihr geht.“

Die Tür zum Zimmer von Alina Morsbach öffnet sich. Herein kommt Christine Nedic. Seit vier Jahren schaut sie so gut wie jeden Tag nach der bettlägerigen Frau. Heute hat sie einen lilafarbenen Filzbeutel mitgebracht, in dem sich drei Klangschalen befinden. Die Betreuungsassistentin nähert sich dem Bett, in dem Alina Morsbach liegt. Sie fährt mit einem Finger über ihre Wange, hält kurz inne und sagt: „Ich mach jetzt mal Klang.“

Und Klang geht so: Christine Nedic nimmt drei schwere Metallschalen aus dem Beutel und verteilt sie im Bett. Bei anderen Patienten, deren Haut das Gewicht der Schalen noch verträgt, legt sie sie direkt auf den Körper. Bei Alina Morsbach aber verteilt sie die Schalen neben Oberkörper und beiden Armen. Christine Nedic greift nach dem mit Filz bezogenen Klöppel, schwingt ihn in der Manier eines tibetanischen Mönchs. Dann macht es Gong, immer wieder schlägt sie gegen die drei Schalen.

KlangschalentherapieSphärische Klänge erfüllen den Raum. Sie sind zu hören und auch zu fühlen: Akustische Wellen durchdringen den Körper von Alina Morsbach, massieren ihn sanft, gehen unter die Haut. „Klangmassage“ – so heißt diese Form der Therapie deswegen, die in vielen Pflegeheimen eingesetzt wird. Die Atmung von Alina Morsbach sinkt nach einigen Minuten eine Etage tiefer: von der Brust in den Bauch. Ihre Muskeln entspannen sich. Sie beginnt zu röcheln. „Das ist der Schleim, der sich löst“, sagt Christine Nedic.

Alina Morsbach bewegt ihr rechtes Auge, wirkt wacher als noch vor zehn Minuten. „Sie hat in solchen Momenten auch schon ‚Mama‘ oder ‚Papa‘ gerufen“, sagt Christine Nedic, die das als Zeichen des Wohlbefindens wertet. „Auch mit mir macht die Klangmassage etwas.“ Positive Energien würden aktiviert. Aber auch Krankes träte bei ihr selbst und den zu Pflegenden zutage, und das sei nicht immer leicht zu verarbeiten. Um sich davor zu schützen, was sie „böse“ und „teuflisch“ nennt, betet Christine Nedic während jeder Sitzung. Mal laut, wenn es das Gegenüber nicht stört. Mal leise, dann murmelt sie das Vaterunser vor sich hin – wie gerade, da sie nicht weiß, ob Alina Morsbach gläubig ist.

Nach gut 20 Minuten packt Christine Nedic die Schalen zurück in den Filzbeutel. Sie streicht mit dem Zeigefinger über Arme und Wangen von Alina Morsbach. „War es schön?“, fragt sie, wohl wissend, dass die Antwort nur mit Gesten zum Ausdruck kommt. Für einen Moment scheint es, als wolle Alina Morsbach etwas sagen, kehlige Laute dringen aus ihrem Mund. „Gleich bekommen Sie Ihr Abendbrot“, sagt Christine Nedic, die gern noch länger bleiben möchte, aber gleich nach Dienstschluss in Richtung Bamberg aufbrechen muss, zu einer Fortbildung. Also drückt sie die „Play“-Taste des CD-Spielers, und Alina Morsbach ist wieder allein mit ihrem Mozart.

Christine Nedic geht in ihr Büro, protokolliert, was sie heute getan hat, und redet über ihre Patientin. In ihrem Beisein hätte sie das nicht getan. Denn auch das gehört für sie zum guten Ton: Nicht über jemanden in der dritten Person zu sprechen, der sich im Raum befindet und eigene Gedanken nicht mehr äußern kann.

Ob ein Leben, wie es Alina Morsbach führt, noch lebenswert ist? „Das muss jeder Mensch für sich beantworten“, meint Christine Nedic. Klar sei, dass sich die Vorstellungen zum Leben und der Grad des Leides, das man zu ertragen bereit ist, ständig änderten. Die Sterbebegleiterin gibt ein Beispiel: Eine gute Freundin von ihr sei vor einiger Zeit an Krebs gestorben. „Sie wollte erst Tabletten schlucken und sich das Leben nehmen, bevor sie zu sehr leiden würde.“

Doch als die Krankheit fortgeschritten sei, habe sich die Einstellung ihrer Freundin geändert. „Sie hat bis zum Ende durchgehalten und sogar Schmerzmedikamente verweigert“, erzählt Christine Nedic. „Sie wollte leben, bis zum letzten Tag.“ Eine Beobachtung, die die Sterbebegleiterin schon oft gemacht hat. „Ich habe so viele todkranke Menschen gesehen, die jeden Moment lebenswert finden“, sagt sie. Am Ende gewännen für manche Patienten die Mahlzeiten an Bedeutung, andere konzentrierten sich auf den Gesang der Vögel vor dem Fenster. „Jedenfalls bin ich vorsichtig mit vorschnellen Entscheidungen, wenn Menschen den Willen zum Leben unterschätzen.“

Irgendetwas hält auch Alina Morsbach am Leben. Sie isst noch, schluckt das zu Brei verrührte Essen herunter, wenn Pfleger es ihr reichen – am liebsten zerdrückte Bananen, so steht es in ihrer Akte. „Im Laufe des vergangenen Jahres hat sich ihr Zustand sogar verbessert“, sagt Sozialdienstleiterin Andrea Pannen erstaunt.

Mit einer Lungenentzündung wurde Alina Morsbach vor etwas mehr als einem Jahr ins Krankenhaus eingeliefert. „Hätte damals eine Patientenverfügung vorgelegen, wären lebenserhaltende Maßnahmen in Absprache mit allen Beteiligten vermutlich eingestellt worden.“ Da eine solche Verfügung nicht vorlag, taten die Ärzte, was sie tun mussten, und Alina Morsbach erholte sich. „Seitdem machen wir ihr das Leben so angenehm, wie es eben geht“, sagt Andrea Pannen.

Pfleger und Betreuer schauen täglich nach Alina Morsbach, im Durchschnitt zwei bis drei Stunden am Tag. Außerdem liest ihr eine Ehrenamtliche an einem Nachmittag in der Woche etwas vor, zuletzt „Dänische Märchen“ und „Der kleine Prinz“. Wenn es so weit ist, werden mehrere Personen sie beim Sterben begleiten. Auch Christine Nedic wird sich dann intensiv um sie kümmern. Bis dahin liegt Alina Morsbach weiter so ermattet da. Mit ihrem Mozart, mit Plastikblumen, die nicht gegossen werden müssen, und mit den beiden Stoffherzen, die Pfleger in ihre Armbeugen gelegt haben.

Pflegeheim (2)

 

Patientenverfügung: Mein Wille geschehe

Eine Patientenverfügung ist eine schriftliche Vorausverfügung einer Person für den Fall, dass sie ihren Willen nicht mehr erklären kann. In einer solchen Verfügung legen Patienten fest, welche medizinischen Maßnahmen Ärzte bei ihnen am Lebensende durchführen sollen – und welche nicht. Was dabei zu beachten ist, darüber informiert die Broschüre „Christliche Patientenvorsorge“, die neben Formularen auch umfangreiche Erläuterungen über die Thematik aus christlicher Sicht enthält.

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