Die Angst, ins Nichts zu fallen

Der spirituelle Schmerz kann tiefer gehen als der körperliche. Das ganze Leben steht auf dem Prüfstand.

Text: Traugott Roser

Wir kamen wie aus zwei verschiedenen Welten, auch wenn Berthold nur eine halbe Generation älter war als ich. Aber die paar Jahre Altersvorsprung können eine Welt bedeuten. Berthold hatte während des Studiums auf den Barrikaden gekämpft, gegen die Generation seiner Eltern, oder auch einfach nur gegen seinen Vater, und in seinem Leben alles das ausprobiert, was die Ideale der 68er waren. Ich kam als Krankenhausseelsorger in sein Zimmer, als Vertreter der einst für überlebt geglaubten Institution Kirche. Berthold litt in fortgeschrittenem Stadium an Krebs; zu heilen gab es nichts mehr, aber die Schmerzen waren so unerträglich geworden, dass er sich von einer Behandlung auf der Palliativstation Linderung erhoffte. Die Medikamente hatten schon viel geholfen, aber die Schmerzsymptomatik war längst nicht behoben.

„Ich bin ein 68er. Ich habe mit Kirche nichts am Hut. Nie gehabt“, ließ er mich gleich zu Beginn wissen. „Es ist nicht meine Absicht, daran etwas zu ändern. Ich bin trotzdem da, falls Sie gern reden möchten.“ Da hatten wir eine gemeinsame Basis, denn im Reden und Diskutieren waren die 68er eigentlich immer gut. Und wir kamen schnell darauf, was ihn zutiefst beschäftigte. „Was bleibt eigentlich von mir, von meinem Leben und dem, was mir wichtig war?“ Kinder hatte er keine (jedenfalls keines, von dem er wusste). Auch keine Frau. Und von den Idealen, für die wir gekämpft haben, ist doch eigentlich auch nichts geblieben.

Es genügte ein Blick in die Tageszeitung, um ihm – zumindest tendenziell – Recht zu geben. In der Wirtschaft geht es neoliberaler zu als je zuvor. Schwarz ist immer noch oder schon wieder an der Regierung. Von freier Liebe hat sich schon meine Generation wieder verabschiedet. Selbst Schwule und Lesben streben nach registrierter Zweierbeziehung und Hochzeit in Weiß.

Und Berthold? Er, der immer gegen die Autoritäten gekämpft hatte, lieferte sich seit der Diagnose Krebs dem aus, was die Autoritäten im weißen Kittel für angebracht hielten. „Nichts von dem, was mir wichtig war, trägt noch. Wofür habe ich eigentlich gelebt?“ Es war uns beiden bald klar, dass zumindest ein Teil seiner Schmerzen nicht mit Morphinpflastern oder Pillen in den Griff zu kriegen war. Es war ein ganz anderer Schmerz. Ein spiritueller Schmerz. Um ihn zu spüren, muss man nicht religiös sein. Um ihn zu überwinden, muss man auch nicht religiös werden.

In Palliative Care und Hospizbetreuung geht es unter anderem um diesen Schmerz und um eine Begleitung, die spirituelle Not lindern möchte. Die Begründerin der modernen Hospizbewegung, Cicely Saunders, hat dies eindrucksvoll in den Begriff des „total pain“ gefasst. An einigen ihrer Patienten beobachtete sie das Phänomen, dass Schmerzlinderung auch mit einer ausgefeilten Schmerztherapie nicht zu erreichen war. Schmerz umfasse manchmal alle Dimensionen des Menschseins: das leibliche Erleben, die psychosoziale und eben auch die spirituelle Dimension. Schmerz, sagt sie, kann zu einer existenziellen Leidenserfahrung werden. Saunders beschrieb dies mit dem Begriff „total pain“ – umfassender, absoluter Schmerz.

Was anfangs ein pharmakologisch zu behandelnder Schmerz zu sein scheint, entpuppt sich gerade dann, wenn die körperliche Ebene gut behandelt wird, als ein viel tiefer sitzendes Leiden. Der damalige Leiter unserer Palliativstation, Gian Domenico Borasio, griff zum besseren Verständnis auf die Worte eines Indianerhäuptlings zurück: „When pain goes, suffering steps in.“ – Wenn der Schmerz geht, wird das Leiden erst richtig spürbar.

Bei einer Fortbildung tauschten wir uns in einer Runde von Seelsorgern aus ganz Deutschland und der Schweiz darüber aus. Wir waren uns einig über das, was wir unter Spiritualität verstanden: nämlich eine dynamische Dimension des menschlichen Lebens, die damit zu tun hat, wie Menschen Sinn, Bedeutung und Transzendenz erfahren, suchen und ausdrücken. Spiritualität hat auch damit zu tun, womit sich ein Mensch auf tiefste Weise verbunden weiß: mit dem Augenblick, dem eigenen Ich oder Selbst, mit anderen, mit der Natur und mit dem, was man für heilig hält. Das beschreibt sowohl die existenzielle Ebene als auch die Werteinstellungen und schließlich auch Fragen der Religiosität und des Glaubens eines Menschen.

Spiritueller Schmerz entsteht, wenn diese Ebene verwundet ist. Oft wird einem erst dann bewusst, wie wichtig Spiritualität im Leben ist, wenn sie verwundet ist; das kann zum Beispiel geschehen, wenn die eigene Existenz durch eine schwere Erkrankung infrage gestellt ist, wenn man unausweichlich mit der Endlichkeit und Brüchigkeit des eigenen Lebens konfrontiert ist. Diese Grenzerfahrung – im Wortsinn – hat ein Kranker oder auch ein Trauernder dem Gesunden immer voraus.

Der Theologe Henning Luther hat die vermeintlich Gesunden darum auch davor gewarnt, beruhigen oder trösten zu wollen, schon gar nicht mit billigen Trostpflastern aus dem Erste-Hilfe-Koffer der Religion. Vielmehr geht es darum, zu erfassen, was dieser spirituelle Schmerz überhaupt ist. Einige der Seelsorgenden fanden dafür Beschreibungen, die etwas von der Grenzerfahrung wiedergeben:

Spiritueller Schmerz ist, so schrieb eine Seelsorgerin, Sinnverlust (Was soll das alles noch?), Perspektivlosigkeit (Ich weiß nicht mehr, wie es weitergehen soll?), nagender Zweifel an dem, was vorher getragen hat, und Haltlosigkeit. Ein Kollege fand ein Bild für diese Erfahrung: „ausgestoßen aus dem Fluss des Lebens, auf sich geworfen“. Oder: „den Verlust des Empfindens von Göttlichem als Mangel feststellen“; Hoffnungslosigkeit, Verlassensein, Heimatlosigkeit, Selbstentfremdung; Situationen der Beziehungslosigkeit und innerer Leere.

Je länger wir uns unterhielten, umso intensiver wurden die Berichte. „Alles kommt ins Rutschen; wo bisher die Koordinaten des Lebens waren, herrscht nun völlige Verunsicherung. Bis zur Angst, das eigene Leben nicht ‚vollenden‘ zu können und stattdessen ins Nichts zu fallen. Im Nachhinein wird mir bewusst, dass in dieser spirituellen Not vieles von dem steckt, was in früheren Zeiten Menschen mit der Vorstellung einer Hölle verbanden: die völlige Beziehungslosigkeit, die Konfrontation mit dem eigenen Scheitern, die Angst vor dem Nichts und einer vergeblichen Suche nach einem barmherzigen Gott.

Der spirituelle Schmerz ist oft genug der Ausgangspunkt eines prinzipiellen Überdenkens dessen, was die Wahrheit im eigenen Leben war und ist, und was Gültigkeit beanspruchen kann. Billige Tröstungen werden dann schnell als solche entlarvt, und Ablenkungsmanöver wirken nicht angesichts der Ernsthaftigkeit der Situation. Für manchen Menschen sitzt der Schmerz so tief, dass er keinen Weg herausfindet.

In einer amerikanischen Untersuchung von Janice Plahuta zum Thema Hoffnungslosigkeit unter Menschen mit einer schweren Erkrankung zeigte sich folgendes Bild: Hoffnungslosigkeit ist ein starker Indikator für Depression und Suizidalität. Etwa zehn Prozent aller untersuchten Patienten litten unter einer ernsthaften Hoffnungslosigkeit, die sich aus vier Komponenten zusammensetzte: Verlust der Kontrolle über das eigene Leben, Unzufriedenheit mit der Unterstützung im eigenen sozialen Umfeld, der Verlust von Perspektive und Bedeutung des eigenen Lebens und der Mangel an religiösen Vorstellungen und Deutungsmustern zur Krankheitsbewältigung.

Die Kenntnis dieser Variablen ermöglicht es mir als Seelsorger, das Ausmaß spirituellen Schmerzes zu begreifen und darüber ins Gespräch zu kommen. Manchmal ergeben sich Auswege, die den Schmerz lindern und ihn manchmal sogar auflösen. Bei Berthold gelang das. Er hatte durch die Krankheit und die Therapien die Kontrolle über sein eigenes Leben verloren und empfand die Abhängigkeit von Medizinern als eine Kränkung. Als er erlebte, dass er mit seiner Palliativärztin und ihrem Team über kurz- und langfristige Ziele seiner Behandlung verhandeln konnte, erfuhr er das als einen Rückgewinn an Kontrolle.

Er setzte durch, dass er mit einem Freund zum Fliegenfischen gehen konnte, mit ausreichend Medikamenten ausgestattet, um das Stehen im kalten Wasser auszuhalten. Stolz und dankbar brachte er Forellen mit, die er verschenkte. Er erlebte soziale Unterstützung durch Freunde und durch das Behandlungsteam. Religiöse Vorstellungen blieben ihm fremd. Aber das, was ihm heilig gewesen war in seinem Leben, das behielt am Ende seines Lebens trotz allem seine Gültigkeit.

Als ich Berthold erzählte, dass ich mit einem Mann zusammenlebte, begriffen wir, dass sein Kampf gegen die Institutionen – und auch eine autoritäre Kirche – mir, einem Kirchenmenschen, zugutegekommen war. Dass ich als Schwuler überhaupt Pfarrer sein und offen leben konnte, wenn auch in der an der alten Ehe orientierten eingetragenen Lebenspartnerschaft. Da begriffen wir gemeinsam, dass dies nur möglich geworden war, weil Menschen wie Berthold auf die Barrikaden gegangen waren. Ich war ihm aufrichtig dankbar, und das bedeutete ihm etwas. Den körperlichen Schmerz wurde Berthold dadurch nicht völlig los, aber die spirituelle Not war nicht mehr beherrschend.

Nicht alles Leid lässt sich lindern. Manche spirituelle Not sitzt zu tief, als dass man darüber hinwegkommen kann. Wenn man sich aber darauf einlässt, die Tiefe der Fragen und das Ausmaß der Verunsicherung an sich heranlässt, dann begreift man manches neu. Nicht zuletzt, dass unsere Leben zusammenhängen. Und dass die Wahrheit eines Lebens danach verlangt, für sich selbst die Wahrheitsfrage zu stellen.

Über den Autor

Traugott Roser, Jahrgang 1964, ist evangelischer Pfarrer, Theologe und Hochschullehrer. Er war Professor für Spiritual Care an der Ludwig-Maximilians-Universität München, bevor er 2013 als Professor für Praktische Theologie an die Westfälische Wilhelm-Universität in Münster wechselte.

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