Allein die Schrift

Was bedeutet es, die Bibel beim Wort zu nehmen? Ein Streitgespräch über Homosexualität, Mission und die biblischen Gebote.

Interview: Thomas Becker

Fotos: Markus J. Feger

Ulrich Parzany, Jahrgang 1941, ist ein evangelischer Theologe, Autor und Prediger. Von 1987 bis 2005 war er Mitglied im Hauptvorstand der Deutschen Evangelischen Allianz. Seit 2016 steht er dem Netzwerk „Bibel und Bekenntnis“ vor.

Barbara Rudolph, Jahrgang 1958, ist hauptamtliches Mitglied der Kirchenleitung der Evangelischen Kirche im Rheinland. Die Oberkirchenrätin leitet die Abteilung Theologie und Ökumene.

 

debatte: Sind Hasen eigentlich Wiederkäuer?

Barbara Rudolph: Das haben Sie in der Bibel gelesen.

Ja, im dritten Buch Mose. Aus Sicht von Zoologen irrt die Bibel allerdings an dieser Stelle.

Rudolph: Manchmal beißen sich Diskussionen an solchen Nebensächlichkeiten fest.

Ulrich Parzany: Im Gesamtkontext der Bibel haben solche Aussagen überhaupt keine Bedeutung.

Rudolph: Entscheidender ist, wie wir mit den zentralen Botschaften der Bibel umgehen.

Parzany: Dazu müssen wir die wörtliche Bedeutung der Schrift erkennen – „sensus literalis“ sagten die Reformatoren – und sie im gesamten Zusammenhang biblischer Aussagen verstehen. „Allein die Schrift“ – so wird dieser Grundsatz seit der Reformation beschrieben: Wir müssen die Bibel sagen lassen, was sie will, und sie als Gottes Maßstab für Glauben und Leben anerkennen.

Rudolph: Wir müssen die Sätze gewichten, sie interpretieren. Bei dem Satz mit den Hasen sind wir uns einig, bei anderen nicht.

Nehmen wir den Satz: „Wenn jemand bei einem Manne schläft wie bei einer Frau, so haben sie beide getan, was ein Gräuel ist, und sollen des Todes sterben; ihre Blutschuld komme über sie.“ (3. Mose 20,13). Wie ist das zu verstehen?

Parzany: Im Alten wie im Neuen Testament sind die Aussagen zur Homosexualität eindeutig; es gibt nicht eine einzige Stelle, in der sie positiv bewertet wird. Das bestätigt übrigens auch eine Arbeitshilfe der Evangelischen Kirche in Deutschland. Der exegetische Befund ist also eindeutig. Welche Konsequenzen man daraus zieht, steht auf einem anderen Blatt. Manche sagen, es sei eine moralische Randfrage. Das finde ich überhaupt nicht.

Sondern?

Parzany: Es gehört zur Selbstoffenbarung Gottes im Alten Testament, dass er Mann und Frau als sein Ebenbild geschaffen hat. Das wird von Jesus bestätigt. Im Römerbrief, Kapitel 1, wird Homosexualität als ein Ausdruck der Verdrehung beschrieben. Es heißt: „Die sich für weise hielten, sind zu Narren geworden.“ Als Zeichen des Gerichts habe Gott sie dahingegeben in diese „schändlichen Leidenschaften“.  Im Alten Testament gilt dafür die Todesstrafe.

Und heute?

Parzany: Ich bekomme als Nichtjude den Zugang zum Alten Testament nur durch den Messias Jesus. Die Botschaft des Evangeliums heißt: Gott war in Christus, er versöhnte die Welt, er trug das Gericht. Und jeder Mensch, egal wie falsch er sich verhalten hat, hat unter dem Kreuz die Chance zur Umkehr. Jesus hat für uns das Todesurteil getragen.

Rudolph: Ich verstehe den Römerbrief (Römer 1,25) ganz anders: Als „schändlich“ wird dort beschrieben, dass Geschöpf und Schöpfer vertauscht werden. Es gibt aber viele homosexuelle Paare, die sich unter das Wort Gottes stellen. Sie ehren und würdigen ihre Partnerin oder ihren Partner als Geschöpf Gottes. Das steht in Deutschland heute zum Glück nicht unter Strafe.

Parzany: Das Letzte befürworte ich auch. Wir leben in einer Gesellschaft, die weitgehend weder an Christus glaubt noch an die Kraft des Heiligen Geistes. Ich kann von Menschen, die nicht mit Christus leben, nicht erwarten, dass sie als Sünde sehen, was wir als Sünde sehen. Aber als Christen müssen wir uns fragen: Welche Bedeutung hat die Bibel für uns? In ihrem ersten Grundartikel bekennt die Evangelische Kirche im Rheinland, dass „die Heilige Schrift die alleinige Quelle und vollkommene Richtschnur des Glaubens, der Lehre und des Lebens ist“. Das ist eine klare Aussage. Darauf bin ich als Pfarrer ordiniert worden.

Offenbar gibt es verschiedene Auslegungen der biblischen Verse.

Parzany: Aber wir können nicht sagen: Das kann jeder Christ sehen, wie er will. Es kann nicht alles gleich richtig sein.

Rudolph: Lassen wir doch Jesus am Ende der Tage richten und zunächst festhalten: In Deutschland werden Menschen, die homosexuell leben, nicht verurteilt. Anders als etwa in Tansania, Uganda oder in Ruanda, wo Homophobie mit der Bibel begründet wird und auch vom Staat unter Strafe steht. Hier geht es um die Verletzung elementarer Menschenrechte!

Parzany: Die westeuropäischen Kirchen üben massiven finanziellen Druck auf afrikanische Kirchen aus, damit sie ihre Meinungen zur Homosexualität ändern. Das finde ich unerhört.

Rudolph: Das stimmt nicht.

Parzany: Aber natürlich.

Rudolph: Die These, dass die Evangelische Kirche im Rheinland Gelder zurückzieht, weil es in afrikanischen Ländern andere theologische Meinungen gibt, ist nicht richtig. Hören Sie auf, das zu behaupten.

Parzany: Dann will ich hoffen, dass es auch so bleibt. Tatsache ist jedenfalls, dass westeuropäische und nordamerikanische Kirchen praktizierte Homosexualität anders bewerten als die Heilige Schrift. Und dass ihre Position im Widerspruch zu großen Teilen der evangelischen Christenheit weltweit steht: in Afrika, Asien und Osteuropa. Und auch zu den orthodoxen Kirchen.

Die Evangelische Kirche im Rheinland hat 2016 sogar beschlossen, dass homosexuelle Paare mit ihrem Segen heiraten dürfen.

Rudolph: Schon im Jahr 2000 haben wir beschlossen, dass wir homosexuellen Paaren den kirchlichen Segen zusprechen. Und dass Pfarrerinnen und Pfarrer, die homosexuell veranlagt sind, mit ihrem Partner oder ihrer Partnerin im Pfarrhaus leben dürfen. Da die Trauung nach unserem Verständnis kein Sakrament ist, sondern der Segen Gottes für zwei Menschen mit einem gemeinsamen Lebensweg, befürworten wir auch die Trauung gleichgeschlechtlicher Paare.

Parzany: Ich halte das für absolut schrift- und bekenntniswidrig. Das Gebot Gottes und die klaren Aussagen der Bibel, dass die homosexuelle Praxis nicht dem Willen Gottes entspricht, werden für bedeutungslos erklärt.

Rudolph: Ich erinnere daran, dass es unterschiedliche Auslegungen gibt.

Parzany: Es geht nicht um unterschiedliche Auslegungen. Wenn der Mensch sich selbst zur letzten Instanz macht, statt Gott anzuerkennen, missachtet er seine Weisungen. Sie radieren die konkreten Gebote des Alten und Neuen Testaments aus und begründen das mit einem entleerten Begriff von Liebe. Im   Johannesevangelium heißt es: „Wer mich liebt, hält meine Gebote.“

Rudolph: Es gibt aber kein Gebot „Du sollst nicht homosexuell lieben“. Die Kirche   neigt mitunter dazu, gerade in Fragen der Sexualität Vorschriften zu machen – und hat damit viel Leid verursacht.

Parzany: Es gibt ein eindeutiges Verbot der homosexuellen Praxis. Genauso wie des Ehebruchs. Das spielt im landeskirchlichen Beschluss keine Rolle. Es heißt: Homosexuelle lieben sich. Und kann denn Liebe Sünde sein?

Rudolph: So schlicht argumentiert die rheinische Kirche nicht.

Parzany: Das ist die Argumentation.

Rudolph: Ich wundere mich, dass Fragen der Homosexualität zur Grenze einer rechtmäßigen Bibelauslegung werden. Ich frage mich auch, warum sich manche Christinnen und Christen daran so abkämpfen und sich zum Teil auf randständige Bibelstellen beziehen. Es gibt viel wichtigere Stellen, die uns zum Handeln aufordern: wenn es um Gerechtigkeit geht, um die Vernachlässigung der Armen, der Witwen und Waisen. Wo ist da die Energie dieser Christinnen und Christen?

Parzany: Schauen Sie doch, wie aktiv unsere Gemeinden etwa in der Flüchtlingshilfe sind. Und was den Umgang mit Homosexualität angeht: Das ist ein Thema, das Sie uns aufzwingen. Bislang habe ich noch gedacht, es wäre ein politisches Thema, das Lesben- und Schwulen-Kampfgruppen durchsetzen wollen. Aber jetzt ist etwas Kurioses passiert: Der Staat ist noch nicht bereit, gleichgeschlechtliche Partnerschaften als Ehe anzuerkennen. Aber die Landeskirchen im Rheinland, in Hessen-Nassau und Berlin-Brandenburg tun das schon. Sie sind die Pressure-Group dafür.

Rudolph: Wir sind Seelsorgerinnen und Seelsorger.

Parzany: Nein. Sie sind eine politische Kampftruppe geworden!

Rudolph: Es ist bemerkenswert, dass Sie mir das Seelsorgeamt absprechen. Das können sie meines Erachtens nicht.

Was raten Sie homosexuell veranlagten Menschen, Herr Parzany?

Parzany: Dass sie keusch leben – genauso wie Heterosexuelle, die nicht verheiratet sind.

Was, wenn nicht?

Parzany: Dann werde ich diesen Menschen in der Seelsorge sagen, dass diese Praxis dem Gebot Gottes widerspricht.

Rudolph: Sagen Sie das auch einer Single-Mutter, die geschieden ist?

Parzany: Selbstverständlich. Außerehelicher Sex entspricht nicht dem Willen Gottes.

Rudolph: Wo steht das denn genau in der Bibel?

Parzany: Es gibt kein einziges Beispiel im Alten oder im Neuen Testament, in dem außerehelicher Geschlechtsverkehr gebilligt wird.

Rudolph: Das heißt, auch vorehelicher Geschlechtsverkehr ist Sünde?

Parzany: Natürlich. Da brauchen Sie sich gar nicht empören.

Rudolph: Ihre Haltung überrascht mich. Es gibt sehr viele evangelikale und pietistische Christen, die das anders sehen.

Parzany: Aber was steht in der Heiligen Schrift? Es gibt kein einziges Beispiel, in dem außerehelicher Sex gebilligt wird.

Rudolph: Diese Argumentation ist schwierig. Es gibt viele Gemeinden, die eine Orgel haben, obwohl Orgeln kein einziges Mal in der Bibel erwähnt werden.

Parzany: Ich bitte Sie!

Rudolph: Die Argumentation ist vergleichbar.

Parzany: Über Orgelmusik steht nichts in der Bibel, es steht aber sehr viel geschrieben über die positive Wertschätzung der ehelichen Gemeinschaft. Nehmen Sie das Beispiel, wenn Paulus schreibt: „Der Leib ist ein Tempel des Heiligen Geistes“ (1. Korinther 6). Die Bibel sagt, dass Sexualität in den Schutzraum der Ehe von Mann und Frau gehört.

Was bringt es, auf Bibelstellen zu verweisen, wenn die Deutungen so unterschiedlich sind?

Parzany: Was ist schlimm daran? Es ist doch angemessen, dass wir fragen, welche Bedeutung hat, was in der Bibel steht.

Rudolph: Doch wir müssen Unterschiede in der Bibelauslegung aushalten. In einem Kommuniqué des Netzwerks „Bibel und Bekenntnis“, dem Sie vorstehen, lese ich, dass nur Ihre Auslegung richtig sei. Jesus sieht das anders: Wenn zwei oder drei in meinem Namen versammelt sind, bin ich mitten unter ihnen. Jeder seiner zwölf Jünger hatte sein ganz eigenes Glaubensverständnis. Jesus selbst mutet uns zu, Pluralität auszuhalten.

Parzany: Was heißt denn aushalten?

Rudolph: Dem anderen die Bibel nicht aus der Hand zu nehmen.

Parzany: Das können Sie ja sowieso nicht. Ich kann Ihnen ja Ihre Überzeugung nicht wegnehmen. Aber wir können doch streiten und argumentieren.

Im Beschluss der Evangelischen Kirche im Rheinland zur kirchlichen Trauung von Homosexuellen wird Pfarrerinnen und Pfarrern das Recht eingeräumt, selbst zu entscheiden, ob sie ein Paar trauen. Da ist Pluralität mitgedacht.

Parzany: Wir müssen unterscheiden zwischen Pluralität und Pluralismus. Pluralität bedeutet: Wir haben vielerlei Gaben Gottes und vielerlei Formen der Gemeinde, das ist kein Problem. Pluralismus dagegen heißt: Es gibt unvereinbare Gegensätze in theologischen Grundfragen, dennoch bleiben alle zusammen. Aber die Glaubwürdigkeit der Kirche schwindet radikal, wenn einige Christen die Heilige Schrift als Norm für Glauben, Leben und Lehre ernst nehmen, während die anderen sagen: Wir haben gelernt, das alles als Lyrik anzusehen. Dann entsteht der Eindruck: Christen machen Sonntag für Sonntag in ihrem Glaubensbekenntnis große Sprüche, an die sie selbst nicht glauben.

Rudolph: Die Heilige Schrift ist Grundlage in unseren Gemeinden. Aber wir halten Unterschiedlichkeiten in der Auslegung aus.

Parzany: Seit dem 19. Jahrhundert entziehen sich Kirchen der Kritik, indem sie den Glauben – mit Friedrich Schleiermacher – als Gefühl beschreiben. Oder indem sie zu verstehen geben, dass alles in der Bibel symbolisch aufzufassen sei. Als rheinischer Pfarrer bin ich aber nicht bereit, schweigend zuzusehen, dass eine Kirche eine Praxis lebt, die der Bibel widerspricht.

Viele evangelische Theologen argumentieren, dass alle Aussagen der Bibel durch das Gebot der nächstenliebe geprüft werden müssten. Widerspricht ein Vers diesem Gebot, verlöre es seine Gültigkeit.

Parzany: Gott will im Bund mit uns leben. Wer ihm glaubt, empfängt seine Liebe und darf sie weitergeben. Gott und den Nächsten lieben, damit fasst Jesus die ganze Thora zusammen. Er argumentiert aber mit dem Gebot der Nächstenliebe nicht gegen die konkreten Gebote.

Rudolph: Doch!

Parzany: Wo denn?

Rudolph: Wenn es etwa um das Gebot geht, den Sabbat als Feiertag vor allen anderen Dingen zu heiligen. Jesus interpretiert die Zuwendung und Hilfe eines behinderten Menschen höher als das Sabbat-Gebot (Markus 3,1-6). Gerade diejenigen, die ihm die Gebote der Schrift entgegenhalten, verblüfft Jesus immer wieder. Er zeigt uns, wie er die Gebote – um des Menschen willen – interpretiert.

Parzany: Jesus sagt: „Liebt ihr mich, so werdet ihr meine Gebote halten.“ (Johannes 14,15) Gott lieben und seine Gebote halten, ist im Neuen Testament also kein Gegensatz. Der Versuch, konkrete Gebote der Bibel mit Hinweis auf die Liebe für ungültig zu erklären, ist nicht legitim.

Wie sollen Christen ihre Positionen in einer Gesellschaft vertreten, in der die Auffassungen davon, was wahr und moralisch geboten ist, weit auseinandergehen?

Parzany: Der verstorbene Soziologe Ulrich Beck meinte, wir sollten die Frage nach der Wahrheit grundsätzlich suspendieren. Jeder habe seinen eigenen Gott – und fertig. Viele Christen in Europa scheinen bereit zu sein, sich darauf einzulassen. Ein Atheist wie Richard Dawkins denkt aber gar nicht daran, postmodern tolerant zu sein. Auch radikale Muslime nicht. Wir müssen ein Toleranzverständnis entwickeln, das mit Unvereinbarkeiten umgeht.

Was ist die Lösung?

Parzany: Ich habe viel gelernt bei Jürgen Habermas. Er meint, dass Toleranz besonders dann geboten sei, wenn zwei Menschen ihre Positionen als gänzlich unverhandelbar ansehen. Gerade dann besteht die Herausforderung darin, den Dissens mit friedlichen Mitteln auszutragen. Dafür trete ich ein, mit kritischen und deutlichen Worten, aber ohne Gewalt, sodass jeder seine Meinung unbeschadet sagen kann. Wir müssen die Freiheit des Andersdenkenden respektieren und brauchen diese bürgerliche Tugend der Toleranz.

Das klingt ganz nach der Ringparabel aus Lessings „Nathan der Weise“.

Parzany: Die Ringparabel wird meist zitiert, um zu sagen: Der Streit um die Wahrheit lohnt nicht, weil man die Wahrheitsfrage nicht beantworten kann. Dem folge ich nicht.

Rudolph: Für mich ist die Ringparabel kein hilfreicher Zugang, wenn es um die Frage der Wahrheit geht. Als Christen können wir nur sagen, dass Jesus sich uns vorgestellt hat mit dem Satz: „Ich bin der Weg, die Wahrheit und das Leben.“ Das ist mein Zugang, daran glaube ich.

Und was bedeutet das für diejenigen, die an eine andere Wahrheit glauben?

Rudolph: Christus ist die Wahrheit – nicht das Christentum! Ich würde niemals behaupten: „Extra muros non salus“, außerhalb der Kirche kein Heil. Denn Christus wählt sich seine Wege auch jenseits meiner Glaubensvorstellungen. Das ist eine wichtige Erkenntnis. Schauen wir auf die Geschichte des Christentums: Christen sind oft ungebremst aggressiv gewesen gegenüber anderen Völkern und Religionen und haben das mit der Bibel begründet. Aber Jesus lehrt uns große Offenheit gegenüber Andersgläubigen: Er erwähnt nicht umsonst den Samariter, einen Andersgläubigen, als Beispiel für einen Menschen, dem unsere vollste Unterstützung gilt.

Parzany: Wir müssen aber auch die Unterschiede sehen, etwa zum Islam: Ich hatte das Glück, in den Sechzigerjahren als Vikar ein Jahr in Jerusalem zu leben. Da bin ich tief in den Islam eingetaucht. Den Koran habe ich gründlich gelesen. Die Kreuzigung von Jesus wird in Sure 4 als Lüge bezeichnet. An Jesus als Gottes Sohn zu glauben, wird als unvergebbare Sünde angesehen. Meine muslimischen Freunde geben das unumwunden zu. In evangelischen Landeskirchen werden solche Gegensätze aber zugedeckt. Alles wird in einen Topf geworfen.

Rudolph: Wir werfen nichts in einen Topf, sondern argumentieren klar christologisch: Wenn ich erkenne, dass Christus der Weg ist, dann gilt das auch außerhalb meines christlichen Glaubens. Das macht mich offen für den Dialog mit anderen Religionen. Wir diskutieren in unserer Landeskirche gerade darüber, was das für den Dialog mit dem Islam bedeutet.

Parzany: Wenn man ausklammert, was in der Bibel steht, kommt man zu einem Potpourri, wie er im aktuellen Papier vertreten wird. In der Bibel lese ich: „Und in keinem andern ist das Heil, auch ist kein andrer Name unter dem Himmel den Menschen gegeben, durch den wir sollen selig werden.“ (Apostelgeschichte 4,12) Das ist das Grundbekenntnis der Apostel zu Jesus. Deswegen habe ich schon sehr gestaunt, mit welchen Turnübungen selbst klare biblische Aussagen wie der Missionsbefehl (Matthäus 28,16-20) umgedreht werden. Als wäre alles gar nicht so gemeint, was wir in der Heiligen Schrift lesen.

Rudolph: Ich lehne Ausdrücke wie „Turnübungen“, „Potpourri“ und „Alles in einen Topf werfen“ ab. Solche Ausdrücke gegenüber jemandem, der Theologie anders begreift als ich, werden Sie aus meinem Mund nicht hören.

Parzany: Da bitte ich um Entschuldigung. In der Sache ist es aber so, dass eindeutige Aus sagen der Bibel umgedeutet werden. Als wäre es nicht unser Auftrag, hinauszugehen in alle Welt und „aller Kreatur“ das Evangelium von Jesus zu bringen. Der Auftrag zur Mission ist klar.

Rudolph: Ich habe den Eindruck, Sie sehen sich auf der Seite der Wahrheit und mich auf der Seite der Lüge. Sie reden abfällig von Umdeutung und Turnübungen. Ich spreche von der gemeinsamen aufgeschlagenen Bibel, die wir unterschiedlich deuten. Ich urteile nicht, sondern will das dem Richter Jesus Christus überlassen. Diese Offenheit erkenne ich bei Ihnen nicht.

Parzany: In manchen Fragen, wenn es etwa um Taufe oder Frauenordination geht, lässt die Bibel unterschiedliche Deutungen zu. In anderen Fragen ist sie eindeutig.

Bei allem Dissens: Wie können Christen zum Frieden in der Welt beitragen?

Rudolph: Ich bringe die Menschen im Gebet vor Gott. Mit Menschen, die zum Beispiel eine andere Meinung zur Homosexualität haben, habe ich oft nach Diskussionen gemeinsam gebetet. Das Amen war hinterher besonders kräftig, weil wir gemerkt haben, dass wir trotz unterschiedlichen Suchens nach der Wahrheit miteinander beten können. Im Dialog mit anderen Religionen hilft es mir zu fragen: Was haben säkulare Menschen und Andersgläubige uns zu sagen? Von wem wollen wir uns missionieren lassen? Und nicht zuerst zu fragen: Wen wollen wir missionieren?

Also weniger reden – erstmal zuhören?

Rudolph: Zuhören ist wichtig, auch wenn Gespräche unbequem sind. Manchmal hat mir Gott nichts anderes zu sagen als: In meinem großen Garten gibt es viele verschiedene Pflanzen, mitunter auch ein unbequemer Kaktus.

Parzany: Ich bin der Überzeugung, dass es keinen besseren und stärkeren Beitrag der Kirche und der Christen zum Frieden gibt, als Jesus zu verkünden und ihm nachzufolgen. Er ist unser Frieden. Als Christen sind wir immer um Waffenstillstände und Eindämmung von Konflikten bemüht. Unser wichtigster Beitrag zum Frieden aber besteht darin, das Evangelium weiterzusagen.

Wie gehen Sie mit Sätzen um, die einen Absolutheitsanspruch beinhalten?

Parzany: Ich habe keinen Absolutheitsanspruch, aber Jesus erhebt ihn gegenüber mir und allen Menschen. Es ist ein absolutes Angebot und ein absoluter Anspruch. Er ist der Schöpfer, der Erhalter, der Retter, der Versöhner. Ihn bezeuge ich, und das bedeutet, dass ich jeden Menschen, auch wenn er mir widerspricht, auch wenn er in einer Weise lebt, die ich für falsch halte, als einen Menschen behandle, der Gott seinen Christus wert ist und der die Wertschätzung Gottes genießt. Wir können in Christus nur eine positive Sicht auf Menschen haben.

Rudolph: Ich meine, wir sollten lernen, dass nicht nur wir Jesus bezeugen, sondern dass Christus auch durch Menschen bezeugt wird, die anders denken und glauben. Das ist das Spannende in der Begegnung: dass ich im Gespräch mit Andersgläubigen tatsächlich etwas über meinen Gott erfahre. Darüber werde ich sehr viel bescheidener. Wir bringen Gott nicht, er ist schon da.

ENDE

 

 

Dialog und Mission

Die Evangelische Kirche im Rheinland versteht sich als „missionarische Volkskirche“ – so steht es im Leitbild, das sie 2010 beschlossen hat. Missionarische Aktivitäten richten sich allerdings schon lange nicht mehr gegen Juden: Der entsprechende theologische Beschluss der rheinischen Kirche reicht zurück ins Jahr 1980. Damals haben  Kirchenparlamentarier aus dem Rheinland der Judenmission eine klare Absage erteilt und sich von der Vorstellung distanziert, die Kirche habe Israel als Volk Gottes abgelöst. Die Evangelische Kirche in Deutschland ist diesem Beschluss 2016 gefolgt.

Was der Missionsbegriff für das christlich-islamische Verhältnis bedeutet, darüber diskutieren derzeit die 704 Gemeinden. Die Synode der Evangelischen Kirche im Rheinland wird sich im Januar 2018 mit dem Thema befassen.

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