Brennpunkt Tempelberg

Seit Jahrhunderten entzünden sich Konflikte am religiösen Zentrum Jerusalems – eine heilige Stätte für Christen, Juden und Muslime. Wem gehört dieses Stückchen Land? Ein Interview mit dem Archäologen und Theologen Dieter Vieweger.

Interview: Cornelia Breuer-Iff

Foto: epd-Bild/ Debbie Hill

Dieter Vieweger, Jahrgang 1958, ist Professor für Altes Testament und Biblische Archäologie an der Kirchlichen Hochschule Wuppertal/Bethel. Er leitet die beiden Institute des Deutschen Evangelischen Instituts für Altertumswissenschaften im Heiligen Land in Jerusalem und Amman (Jordanien) und ist Autor des Buches „Streit um das Heilige Land“ (5. überarbeitete Auflage 2015).

debatte: Juden und Christen sprechen vom Tempelberg, Muslime nennen ihn Haram asch-Scharif, was soviel bedeutet wie edles Heiligtum. Wann waren Sie zuletzt auf dem Plateau?

Dieter Vieweger: Ich gehe regelmäßig dorthin. In unserem Jerusalemer Institut haben wir sehr viele Besuchergruppen, die dort geführt werden möchten. Auch wenn ich kein Reiseleiter bin, begleite ich sie häufig. Über das deutsche Vertretungsbüro in Ramallah oder über die den Haram asch-Scharif verwaltende muslimische Behörde beantragen wir dann, dass wir auch in die Gebäude hinein dürfen, in den Felsendom, in die Al-Aqsa-Moschee, in die unterirdische Moschee und ins Islamische Museum.

Das heißt, auch Christen und Juden haben Zutritt?

Ja, wenn kein muslimisches Gebet stattfindet, können sie hinauf. Hin und wieder ist der Tempelberg an bestimmten Festen gesperrt, manchmal dürfen ganz bestimmte Gruppen nicht hoch. Interessierte können aber, wenn sie sich in der Frühe anstellen, sonntags bis donnerstags damit rechnen, auf das Plateau zu kommen. Allerdings dürfen sie die Gebäude nicht betreten, das ist seit der zweiten Intifada Muslimen vorbehalten.

Der Ort gilt Christen, Juden und Muslimen als heilig. Wem gehört dieses kleine Stück Land?

Das ist meiner Meinung nach eindeutig. Heute hat die Verwaltung des Tempelbergs der Waqf, eine muslimische Stiftung, und damit in letzter Instanz das jordanische Königshaus dort das Sagen. Diesem Waqf ließ der israelische Verteidigungsminister Moshe Dayan nach der Eroberung Ostjerusalems 1967 den Tempelbergbezirk unterstellen. Dayan kannte die religiösen Empfindlichkeiten und deren explosives Potenzial. Im Friedensvertrag zwischen Israel und Jordanien wurde die besondere Rolle des jordanischen Königshauses als Hüter der heiligen  muslimischen Stätten in Jerusalem bekräftigt. Insofern ist die rechtliche Situation klar.

Was bedeutet, es ist ein muslimischer Flecken.

Nun, jedenfalls dürfen die Muslime an dieser Stelle sagen, wie es laufen soll. Schwierig wird es allerdings, wenn Anhänger anderer Religionen mit Recht betonen: Hier liegen doch auch unsere Wurzeln.

Welche Bedeutung haben die heiligen Stätten, um die der Streit immer wieder aufflammt, für die Religionen?

Die Al-Aqsa-Moschee und der Felsendom sind die drittwichtigsten Heiligtümer des Islam, nach Mekka und Medina. Die Klagemauer ist der heiligste Ort des Judentums, weil sie dem ehemaligen Tempel, speziell dem Allerheiligsten, am nächsten liegt. Der rabbinischen Lehre nach hat die Gegenwart Gottes (hebräisch: Schechina) auch nach der Tempelzerstörung im Jahr 70 durch die Römer diesen Ort nicht verlassen. Da ist Gott anwesend, sind fromme Juden überzeugt. Zettel, die sie in den Ritzen der Klagemauer hinterlassen, stecken sie Gott sozusagen geradewegs in den Gehörgang. Für Juden ist der Platz, an dem heute der Felsendom steht, der Ort des früheren Tempels. Der Messias wird ihn dort eines Tages auch wieder aufrichten, glauben sie. Eine kleine Minderheit jedoch fordert: Lasst uns das jetzt schon einmal selbst in die Hand nehmen …

Da ist Streit fast unvermeidlich.

Zu allem, was sich historisch sagen lässt, kommen religiöse Traditionen. Hier soll Gott Adam erschaffen haben. Hier soll Mohammed in den Himmel gestiegen sein. Hier sollte Abraham einmal Isaak, einmal Ismael opfern: Da wird die gleiche Geschichte von Juden und Muslimen einfach auf den je anderen Sohn des Stammvaters hin erzählt. Das Endgericht wird in Jerusalem sein und ebenso der Zugang zum Paradies. Hier überlagern sich muslimische und jüdische Hoffnungen. Wie an der westlichen Grenzmauer des Tempelkomplexes: Für die einen ist sie ganz nah am Allerheiligsten, für die anderen hat Mohammed dort sein Reittier Buraq angebunden, mit dem er aus Mekka gelogen kam. Das heißt: Hoffnungen und Traditionen verschiedener Gruppen belagern immer denselben Ort.

Welche Rolle spielt aus Ihrer Sicht der Tempelberg im Nahost-Konflikt?

Das ist wirklich der Hotspot, der Brennpunkt. Der Nahost-Konflikt ist ja zunächst einmal kein religiöser Konflikt, sondern einer um Land, um Macht, um Wasser und Geld. Aber natürlich wird das Religiöse überhöht. Der Tempelberg ist für die muslimische Seite im Prinzip der letzte Zufluchtsort, den sie ganz unter eigener Kontrolle hat, das einzige wichtige Heiligtum, das sie selbst kontrollieren darf. Und da hat sie verfügt, dass das öffentliche Gebet nur Muslimen möglich ist. Christen dürfen das Areal betreten, sie dürfen auch im Herzen beten, aber nicht mit sichtbaren Gesten. Juden dürfen hoch, aber sie dürfen ebenfalls keine Gottesdienste halten. Das ist es, was immer wieder hochkocht. Derartige Wünsche vertragen sich nicht mit dem, was sich die Muslime dort ausbedungen haben und was, gerechtfertigt oder ungerechtfertigt, beschlossen ist.

Leisten die Religionsgemeinschaften denn in irgendeiner Weise einen Beitrag zum Frieden, oder heizen sie den Konflikt eher noch an?

Der Konflikt bestimmt inzwischen alle Lebensbereiche. Auch die Religionsgemeinschaften werden dafür missbraucht oder lassen sich missbrauchen. Es gibt genügend fanatische Leute islamischen Glaubens, die sagen, diesen Haram asch-Scharif müssen wir verteidigen. Wenn wir ihn aufgeben, verlieren wir unseren Glauben oder verleugnen ihn. Und es gibt eine kleine Menge rabiater Juden, die will da oben hörbar beten und den heiligen Ort möglicherweise aufteilen. Da kommen Konflikte auf, die sind nun religiös, und die werden auf dem religiösen Schlachtfeld Tempelberg auch ausgetragen.

Wie sieht das konkret aus?

Es kommen immer wieder entsprechende jüdische Gruppen auf den Tempelberg. Oben warten dann nicht selten penetrante Frauengruppen, die mit dem Koran in der Hand „Allahu akbar“ („Gott ist am größten“) schreien und Gottesdienste der Juden verhindern. Dann müssen die Sicherheitskräfte zwischen die Fanatiker gehen. Das sind unschöne Szenen. Hin und wieder kommt es sogar zu Ausschreitungen. Einer wirft einen Stein, ein anderer wirft einen Knüppel, und dann liegen die Fäuste, und die Sicherheitsleute setzen, wenn es ganz schlimm kommt, Tränengas ein. Die Muslime liehen in die Al-Aqsa-Moschee, und die Sicherheitskräfte versuchen, die Extremen zu stellen, und dann haben wir dort großen Kladderadatsch. Bis hin zum jordanischen König, der sich das natürlich verbitten muss. Keine der extremen Seiten traut der anderen, und deshalb gibt’s auch keine Lösung.

Wo sehen Sie, wenn überhaupt, einen Ansatzpunkt für eine friedliche Lösung?

Die Frage ist, ob die Extremen beider Seiten, kleine, aber sehr einflussreiche Gruppen, das Sagen haben oder ob sich die große Masse, die friedensbereit ist, auch einmal artikulieren und die radikalen Minderheiten in die Schranken weisen kann.

Was steht dem entgegen?

Wenn ein gemäßigter muslimischer Vertreter Kritik äußert, muss er damit rechnen, dass sein Haus brennt. Oder dass sein Kind nicht von der Schule zurückkommt. Da schweigen viele lieber. Die Verhältnisse sind alles andere als einfach, und die Extremen beider Seiten haben leider mehr Einfluss auf ihre Gesellschaften, als man es sich wünschen kann. Durch Selbstmordattentate, durch Aufruhr am Tempelberg, durch vielerlei Provokationen. Ich rede nicht gegen Juden, auch nicht gegen Muslime, aber ich rede gegen Extreme. Die schaden dem Frieden. Es ist nicht das Judentum an sich, es ist auch nicht der muslimische Glaube. Natürlich könnte man sich einigen. Aber dann muss jede radikale Seite auch mal drei Schritte zurücktreten und nicht immer nur mit Schaum vorm Mund tausend Prozent fordern. Die Wünsche sind einfach überzogen.

Auf beiden Seiten …

Ja, auf beiden extremen Seiten.

Die Unesco, die Organisation der Vereinten Nationen für Bildung, Wissenschaft und Kultur, hat im vergangenen Jahr eine Resolution verabschiedet, die Israel vorwirft, den Status quo an den heiligen Stätten in Jerusalem zu stören. Die Resolution nennt den Hügel allein bei seinem muslimischen Namen, spricht vom Haram asch-Scharif und lässt damit die Beziehung des Judentums zu diesem Ort unerwähnt.

Die Unesco ist die Summe ihrer Mitglieder. In dieser Verlautbarung haben die entsprechende Mehrheit und ihre muslimischen Verfasser einfach so getan, als habe es am Haram asch-Scharif nie einen Tempelberg gegeben. Der Ort war immer muslimisch, da war nie etwas anderes, das ist die immanente Botschaft. Der historisch-archäologische Befund spricht aber doch dagegen. Unter Fachleuten ist das unangefochten. Und das „s“ in Unesco sollte doch tatsächlich für Wissenschaft („science“) stehen. Wer aber die Religion vor die Aufklärung setzt, der kann alles behaupten.

Mit welcher Absicht?

Das ist ein Nadelstich. Wo man die Mehrheit hat, schlägt man zu, internationalisiert das Problem und macht es damit noch unlösbarer.

 

Aufmacherfoto: Wikipedia/Andrew Shiva