Die Rose des Glaubens

Über die Kunst des Unterscheidens.

Text: Burkhard Müller

Der kleine Prinz liebt eine Rose, seine Rose. Er weiß, dass es viele andere Rosen gibt. Aber diese eine ist seine – und deshalb für ihn ganz besonders. Wer würde ihn intolerant nennen, nur weil er seine Rose mehr als alle anderen liebt?

So ähnlich geht es mir mit Jesus im Verhältnis zu Mohammed und Buddha. Mit Jesus bin ich vertraut. Schon als Kind hat man mir von ihm erzählt. Vieles von ihm ist tief in meinem Inneren, bewegt meine Emotionen. Darum gehört er zu mir und ich zu ihm. Er ist „mein Weg, meine Wahrheit und mein Leben“ geworden, er hat mir den Weg zu Gott freigemacht. Was ich von Mohammed und Buddha nicht so sagen könnte.

Aber darum verachte ich andere Religionen nicht, sie bedeuten mir nur nicht so viel. Ich weiß nicht, ob und wie sie für mich „Weg, Wahrheit und Leben“ sein könnten. Wie beim kleinen Prinzen die Liebe zu der einen Rose sich nicht gegen die anderen Rosen wendet, so soll meine Liebe zu Jesus sich nicht gegen andere wenden.

Aber sperrt das „Niemand kommt zum Vater denn durch mich“ die anderen nicht grundsätzlich aus?

Als der „Johannes“ genannte Verfasser uns das Wort vom Weg, der Wahrheit und dem Leben aufschrieb, war Jesus seit mindestens 50 Jahren tot. Er hat Jesus persönlich nicht gekannt und die äußeren Fakten waren ihm ziemlich egal. Aber sein glaubendes Herz hat dennoch viel von ihm verstanden. Er hatte sich so in Jesus und seine Art hineingedacht, dass er sich traute, „Jesusworte“ zu ersinnen, die wunderbar anschaulich ausdrücken, wer dieser Jesus für ihn war und für uns sein soll: Ich bin das Licht der Welt. Ich bin das Brot des Lebens. Ich bin die Auferstehung und das Leben.

Genau sieben solcher Ich-bin-Worte gibt es, denn die Sieben ist eine heilige Zahl. Sieben bildet eine Ganzheit. Sieben Ich-bin-Worte: Damit ist alles Wichtige gesagt. Und eins dieser Worte lautet: Ich bin der Weg, die Wahrheit und das Leben.

Johannes formuliert sie aus seiner großen Liebe zu Jesus. Aber manchmal bricht auch etwas anderes in seinem Evangelium durch: eine schlimme Verachtung für seine „Fremdreligion“, mit der er im Streit lag, dem Judentum. So lässt er Jesus das schreckliche Wort sagen: „Ihr Juden habt den Teufel zum Vater!“ (Joh 8,44) Dieses Wort hat uns Christen auf einen bösen Weg geführt, enthält keinerlei Wahrheit und

ist eher ein Todeswort als ein Wort des Lebens. Jesus hat das sicherlich nie gesagt, denn schließlich war er selbst ein Jude. Von hier aus kann man den Satz „Niemand kommt zum Vater denn durch Jesus“ als einen Seitenhieb auf die Juden deuten. Johannes spricht ihnen damit die Nähe zu Gott grundsätzlich ab.

Ich schäme mich für solche Worte in unserer Bibel. Aber ich kann unterscheiden. Darum bin ich zugleich Johannes dafür dankbar, dass er die wunderbaren Ich-bin-Worte gefunden hat, die ausdrücken, was uns Jesus bedeutet: Weg, Wahrheit und Leben, und dass er uns den „Weg zum Vater“ geöffnet hat.

Früher habe ich andere Religionen aus Karl Mays Büchern kennengelernt. Heute leben ihre Anhänger mitten unter uns. Sie können mir erzählen, welchen Weg, welche Wahrheit und welche Weisung für das Leben ihnen ihre Religion gibt, und wie sie Gott suchen und finden wollen. Und warum sollte ich nicht auch umgekehrt ihnen erläutern, warum Jesus mir der Weg, die Wahrheit und das Leben bedeutet, und wie er mir den Weg „zum Vater“ eröffnet? Das würde dann ein spannender Dialog!

Burkhard Müller, Jahrgang 1938, ist Pfarrer und Superintendent im Ruhestand aus Bonn.