Sein unheiliger Zorn

War Martin Luther ein religiöser Brandstifter? Der Fanatismus des Reformators lehrt uns, die fundamentalistischen Bedrohungen der Gegenwart besser zu verstehen, glaubt Deutschlands wichtigster Luther-Biograf.

Text: Heinz Schilling

„Ich bin“ – so charakterisierte Martin Luther seine Person und seinen Auftrag – „dazu geboren, das ich mit den rotten und teuffeln mus kriegen und zu felde ligen, darumb meiner buecher viel stuermisch und kriegerisch sind. Ich mus die kloetze und stemme ausrotten, dornen und hecken weg hawen, die pfuetzen ausfullen und bin der grobe waldrechter, der die ban brechen und zurichten muss.“ Luther wusste also um seine Ecken und Kanten. Die protestantische Nachwelt hat sie abgeschliffen zugunsten eines heroischen, nicht selten auch süßlichen Reformators.

Im Moment des 500. Reformationsgedächtnisses ist jedoch nüchterner Realismus geboten, der positiv verherrlichende Verzeichnungen ebenso vermeidet wie negativ verdammende. Ein realistisches Bild von Luther und der Reformation zu entwerfen bedeutet als Erstes, den Wittenberger und seine Gegenspieler aus ihrer Zeit heraus zu begreifen. Sie lebten in einer Epoche des Umbruchs, des beschleunigten Wandels, der tiefen Verunsicherung der Menschen und der Suche nach verlässlicher Wahrheit – eine soziopsychologische Situation also, die uns fast vertraut erscheint. Indes, die Bauprinzipien von Staat und Gesellschaft waren grundverschieden zu den heutigen, ebenso die Denkweisen und Emotionen der Menschen – ihre Ängste ebenso wie ihre Hoffnungen. Die Reformationsepoche und die Gegenwart trennt der fundamentale Wandel des Aufklärungszeitalters!

Damals war ein magisches Weltbild bestimmend, und zwar auch für die Gelehrten und die Politiker an den Höfen und in den Regierungskanzleien. Hexen, Dämonen und Teufel gehörten zur alltäglichen Realität und dementsprechend die Furcht vor ihrem Schadenszauber.

Zeitgeschichte war Heilsgeschichte, das heißt, sie wurde als Ausdruck des eschatologischen Ringens zwischen Gott und Teufel begriffen; als ein Ringen um Ordnung oder Unordnung im Diesseits wie im Jenseits, das jede Menschenseele direkt erfasste. Kirche und politische Ordnung waren strukturell verschränkt; Religion war allzuständig, in öffentlichen wie in privaten Räumen. Staatliche Institutionen im modernen Sinne gab es erst in Ansätzen, Souveränität und Gewaltmonopol waren erst noch gegen den zähen Widerstand älterer, vorstaatlicher Kräfte durchzusetzen – gegen den Adel, die Ritterschaft und den Klerus, aber auch gegen beharrende Tendenzen in Städten und Dörfern. Die Größe des Reformators bestand nicht darin, den Rahmen seiner Welt zu sprengen. Er hat sich ihrer geistigen Grundlagen neu versichert. Und das konnte für ihn nur religiös-theologisch geschehen. Luther ist uns sowohl in seinem Denkansatz als auch in seinen Lösungen zutiefst fremd. Doch gerade diese Fremdheit ermöglicht es, ohne erneute Vereinnahmung den historischen Rang und die Bedeutung des Reformators für Gegenwart und Zukunft zu bestimmen.

Luther wie seine Zeitgenossen trennen Lichtjahre von Lessings aufgeklärt- toleranter Ringparabel. Eine religiöse Wahrheit konnte der Reformator weder Juden oder Muslimen noch anders denkenden Christen zuerkennen.

Als Rabbiner ihn in Wittenberg besuchten, um über das Alte Testament zu diskutieren, endete das in der katastrophalen Wendung hin zu den schlimmen antijüdischen Schriften der späten Jahre. Der Reformator war unfähig zu einem offenen Dialog, von Toleranz ganz zu schweigen. Er bestand auf seinem absoluten Wahrheitsanspruch. Wer diese für ihn eindeutig klare Wahrheit nicht teilte, der musste bösartig verstockt sein – Papst, Juden, Muslime ebenso wie Abweichler im eigenen Lager. Mehr noch, sie waren Agenten des Teufels und Antichristen, der die Menschen verderben will, indem er das eben restituierte wahre Evangelium wieder in Unwahrheit verkehrt. Diese eschatologische Angst war der Nährboden für die wütenden Angriffe des alten Luther auf die Juden, die er aus den evangelischen Städten und Territorien vertrieben sehen wollte. Zugrunde lagen kein rassistischer Antisemitismus, sondern Vernichtungsfantasien aus magischem Reinheitswahn gegen alle, die seine evangelische (dogmatische) Reinheit „beschmutzen“ und damit die Menschen – dessen war er sich sicher – wieder vom Heil abbringen würden.

Der von allen Konfessionen geteilte Absolutheitsanspruch für die eigene Wahrheit entfesselte in der lateinischen oder westlichen Christenheit eine Fundamentalfeindschaft, die gerade die tiefsten Glaubensgehalte erfasste, das Abendmahl ebenso wie die Wirkung der Gnade. Und da man weiterhin auf der Einheit von kirchlicher und bürgerlicher Gemeinde bestand, herrschte für ein rundes Jahrhundert in Europa eine geradezu fundamentalistische Verschränkung von Religion und Politik mit Gewalt und menschenverschlingendem Terror, der dem heutigen nur in den beschränkteren Mitteln nachstand.

Diese Bitternis müssen wir auch und gerade im Moment der Freude über die positiven Folgen der Reformation herausstellen – die Bitternis nämlich, dass es nicht Luthers heologie an sich war, sondern die mit der Reformation geborene jahrhundertelange Fundamentalfeindschaft der Konfessionen, die der lateinischen Christenheit oder Europa den Weg in das friedliche Zusammenleben und schließlich zum weltanschaulichen Pluralismus eröfnete. Eine Selbsterkenntnis, die „dem Westen“ womöglich Orientierung in der fundamentalistischen Bedrohung der Gegenwart geben mag.

Als Mitte des 17. Jahrhunderts der konfessionelle „Fundamentalismus“ überwunden wurde und sich die Politik von kirchlichen Dogmen emanzipierte, war das nicht nur die Leistung von Juristen und dem überkonfessionell gebliebenen römischen Recht. Die Einhegung des zerstörerischen Konfessionsfundamentalismus erfolgte nicht gegen, sondern mit der Religion.

Im Chaos der Selbstzerfleischung hatte die Herzensfrömmigkeit des pietistischen Zeitalters die dogmatische Orthodoxie Zug um Zug in den Hintergrund gedrängt. Zudem widersprach das  Ordnungsdenken der Theologen, der katholischen wie protestantischen, im Kern dem Fundamentalismus. Hilfreich war nicht zuletzt Luthers „Zwei-Reiche- Lehre“, die zwei Regimente mit je unterschiedlichen Herrschaftsprinzipien unterscheidet – einem weltlichen unter der Gewalt des Staates und einem göttlichen unter der religiösen Wahrheit, über die Gott allein entscheidet. Auch das ist ein wichtiges Legat aus dieser fremden Welt an die unsrige – die Hoffnung nämlich, dass der Fundamentalismus nicht gegen, sondern unter Beteiligung der sich wandelnden Religion überwindbar ist. Schließlich der wohl wichtigste Aspekt reformatorischer Bitternis, aus dem Hoffnung für die Zukunft erwachsen kann: die kulturelle und weltanschauliche Differenzierung. Auch sie war nicht das Ergebnis lutherischer Theologie. Die blieb den alten Denkmustern der Einheit von bürgerlicher und konfessionell kirchlicher Gemeinde verhaftet. Entscheidend war schlicht die Tatsache, dass sich der Wittenberger im Unterschied zu früheren Reformern behaupten konnte und unter dem Schutz evangelischer Obrigkeiten eigenständige Kirchen entstanden.

Das löste einen von Luther nicht beabsichtigten Differenzierungsschub aus, der weit über den religiösen und kirchlichen Bereich hinaus wirkte und die weltanschauliche, kulturelle und politische Differenzierung Europas vorantrieb – bis hin zur pluralistischen und säkularen Zivilgesellschaft der Gegenwart. Hier liegen die Wurzeln der modernen Identität Europas, die der italienische Dramaturg und europäische Kulturmanager Giorgio Strehler Jahrhunderte später als den für Europa typischen Geisteszustand beschreiben sollte: „ein Land/eine  Kultur nie anders zu denken als in Bezug zu den anderen Ländern/ Kulturen“.

Heute können sich auch die christlichen Konfessionen denken und definieren nicht gegen, sondern „in Bezug auf“ die  anderen Religionen. Aber nicht, indem die Unterschiede der geglaubten religiösen Wahrheit nivelliert oder als nebensächlich erklärt werden, sondern indem jede der unterschiedlichen Religionen wie die Nichtgläubigen sich in die religionsneutrale Zivilgesellschaft einfügen und den Unterschied der Wahrheiten ertragen, im optimalen Falle sich an ihm  sogar erfreuen.

 


Der Text beruht auf einem Vortrag, den Heinz Schilling im Rahmen einer musikalisch-literarischen Soiree zu Ehren Martin Luthers vor dem Bundespräsidenten sowie Organisatoren und Begleitern des 500. Reformationsjubiläums im Schloss Bellevue gehalten hat. Schillings Buch „Martin Luther. Rebell in einer Zeit des Umbruchs“ erschien 2014 im Verlag C. H. Beck.

 

Aufmacherfoto: epd-Bild/Stiftung Luthergedenkstätten