„Zieht fröhlich hinaus“

Gewalt ist ein wiederkehrendes Motiv in Kirchenliedern. Die Germanistin Martina Wagner-Egelhaaf hat das Phänomen erforscht.

 

Interview: Lea Albring

Illustrationen: Sabine Kühn

 

© Martina Wagner-Egelhaaf

Martina Wagner-Egelhaaf, Jahrgang 1957, lehrt als Professorin für Neuere Deutsche Literaturwissenschaft an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster und ist am dortigen Exzellenzcluster „Religion und Politik in den Kulturen der Vormoderne und Moderne“ aktiv. Ihre Forschungsergebnisse zum Thema Gewalt in Kirchenliedern hat sie veröffentlicht in der Fachzeitschrift „Internationales Archiv für Sozialgeschichte der Deutschen Literatur“, Band 40, Heft 1, 2015.

 

debatte: Frau Wagner-Egelhaaf, können Sie noch unbedarft Kirchenlieder singen?

Martina Wagner-Egelhaaf: Jein. Ich bin evangelisch, besuche gelegentlich Gottesdienste und singe grundsätzlich auch gerne. Gerade die älteren Kirchenlieder sind sprachlich zum Teil weit von unserer Gegenwartssprache entfernt, die Satzstellung ist manchmal verdreht, damit der Text zur Melodie und zum Rhythmus passt. Ich kenne viele Lieder schon seit meiner Kindheit, sie sprechen mich auf der sinnlichemotionalen Ebene an. Da gerät man leicht in Versuchung, etwas mitzusingen, was einem bei genauerem Nachdenken nicht so leicht über die Lippen kommen würde.

Als Literaturwissenschaftlerin haben Sie zum Thema Gewalt im Kirchenlied geforscht. Was war der Auslöser?

Ich wurde gebeten, zu einer Ringvorlesung mit dem Titel „Religion und Gewalt“ einen Vortrag zu halten. Mir kam gleich die Idee, dass man in Kirchenliedern auf Gewaltpotenziale stoßen könnte – Luthers Verszeile „Erhalt uns, Herr, bei deinem Wort und steure deiner Feinde Mord“ (1541) schoss mir direkt durch den Kopf. Das klingt ja zunächst sehr gewaltförmig. Ebenso wie die Liedzeile „Zieht fröhlich hinaus zum heiligen Krieg!“, die der pietistische Pfarrer und Volksdichter Christian Gottlob Barth Mitte des 19. Jahrhunderts schrieb. Und auch der ebenfalls von Barth stammende Titel „Der du in Todesnächten erkämpft das Heil der Welt“ deutet auf Gewalt hin. Davon habe ich mich leiten lassen und meine Recherche begonnen.

Sind sie bei ihrer Suche schnell fündig geworden?

Es war nicht so einfach wie gedacht. Schnell habe ich gemerkt, dass Gewalt eine subtile, erst auf den zweiten Blick erkennbare Rolle in Kirchenliedern spielt. Aber mit einer literaturwissenschaftlichen Textanalyse kann man Gewaltpotenziale in recht vielen Kirchenliedern entdecken: Es gibt Aufrufe zur Gewalt im körperlichen und psychischen Sinne, etwa Barths missionarischer Aufruf, in den heiligen Krieg zu ziehen – das kennen wir ja heute auch aus einem anderen religiösen Kontext. Hier kann man auch von einer rhetorischen Gewalt sprechen, da es häufig darum geht, Menschen zu überzeugen, sie durch die Macht der Sprache für eine Sache einzunehmen. Typischerweise ist das im Missionslied der Fall.

Was genau ist ein Missionslied?

Historisch betrachtet geht im 19. Jahrhundert das wachsende Nationalbewusstsein mit dem Aufkommen der Missionslieder einher: Zuvor wurden Kirchenlieder sprachlich stark überarbeitet und angepasst, romantische Formulierungen aus der Zeit des Barocks wurden in der Zeit der Aufklärung gestrichen. Das Missionslied hingegen besinnt sich wieder auf Traditionelles und Althergebrachtes und beschwört eine gemeinsame Identität. Missionslieder werden auch gegenwärtig noch gesungen. In der aktuellen Ausgabe des Evangelischen Gesangbuchs sind sie unter der Überschrift „Sammlung und Sendung“ zu finden.

Und was ist gewaltförmig am Missionslied?

Generell gesprochen sind es das provokante Schweben zwischen den Polen „wir“ und „die anderen“, das gewaltsame Ziehen einer Grenze und die Ambition, sich auszubreiten. Denn zum Ausbreiten gehört auch Vereinnahmung oder Vertreibung – beides gewaltsame Akte. In Barths Lied „Der du in Todesnächten erkämpft das Heil der Welt“ (1826) heißt es zum Beispiel: „Es ist kein Preis zu teuer, / es ist kein Weg zu schwer, / hinaus zu streun dein Feuer / ins weite Völkermeer.“ Feuer kann eine Metapher für Licht und Hoffnung sein, es ist aber vor allem zerstörerisch. Und dann die Ausbreitung: Diese ist immer latent gewaltförmig, gerade wenn man daran denkt, dass andere Menschen ihre eigenen Überzeugungen haben, ihren eigenen Glauben, und gar nicht missioniert werden wollen.

Stehen solche Lieder noch immer in Gesangbüchern?

Ja, beispielsweise ist „Der du in Todesnächten erkämpft das Heil der Welt“ noch immer im Evangelischen Gesangbuch zu finden. Allerdings ist auch die Tendenz zu beobachten, dass Gesangbücher über die Jahrhunderte stark redigiert und immer wieder an den Zeitgeist angepasst wurden. Manche Zeilen, Strophen oder Lieder mit besonders ofensichtlichen Gewaltpotenzialen wurden gerade in neueren Fassungen der Gesangbücher umgedichtet oder gestrichen. Erst im Jahr 1950 erschien übrigens die erste, vereinheitlichte Version des Evangelischen Kirchengesangbuchs, das vereinheitlichte katholische Gotteslob erschien 1975. Gesangbücher und Lieder unterlagen bis heute zahlreichen Bearbeitungen und Eingriffen. Unterschiede gibt es zwischen den Konfessionen und auch in den verschiedenen Auflagen und Ausgaben.

Textzeile aus: „Der du in Todesnächten erkämpf das Heil der Welt“ (1826) von Christian Gottlob Barth

Wie wurden Texte verändert?

Ein Beispiel ist Johann Walters neunstrophiges Lied „Wach auf, wach auf, du deutsches Land“ von 1561. In der Ausgabe des Evangelischen Gesangbuchs fehlen seit 1996 zwei Strophen, in denen unter anderem von einem „übereileten“ Deutschland die Rede ist. Es heißt darin: „Fürwahr, die Axt ist angesetzt / Und auch zum Hieb sehr scharf gewetzt.Gegenwärtig findet man das komplette Lied mit diesen alten Strophen im Internet auf den Seiten rechtsradikaler Gruppierungen. Bei You-Tube gibt es eine Version, in der ein Männerchor dieses Lied inbrünstig vor einer gehissten Deutschlandflagge singt.

Sie sprechen von der „Gewalt des Missverstehens“. Was ist gemeint?

In vielen Kirchenliedern gibt es sogenannte Unbestimmtheitsstellen. Das sind Stellen, die jede Zeit für sich wieder neu interpretieren kann. Da kann es leicht zu Missverständnissen kommen, wie das gerade erwähnte Lied „Wach auf, wach auf, du deutsches Land“ zeigt. Im aktuellen Kontext bekommt es eine ganz neue Bedeutung, wenn man es mit Geflüchteten in Verbindung bringt, die uns angeblich   „überschwemmen“. Deswegen ist es sehr wichtig, dass wir das Lied im historischen Kontext sehen. Es wurde zu einer Zeit komponiert, als es noch gar keinen deutschen Nationalstaat gab. Es war als Aufruf zum Glauben gedacht, nicht als Mobilmachung gegen andere. Das kann man dem Lied wirklich nicht unterstellen, selbst wenn es heute so in manchen politischen Kreisen verstanden wird.

Viele Lieder, die noch heute oft gesungen werden, stammen aus der Reformationszeit. Finden sich auch hier Aufrufe zur Gewalt?

Mit dem „Neuen Lied“ hat Martin Luther im 16. Jahrhundert das protestantische Kirchenlied begründet. Es diente dazu, die eigene Position im Glauben zu stärken, aber auch, Katholiken zu schmähen und generell zu unterstellen, Gott stehe auf der Seite der Protestanten. Teilweise schiebt Luther denjenigen, die er als Feinde ausmacht, Gewalt in die Schuhe. Deutlich wird das etwa in seinem Lied „Erhalte uns, Herr, bei deinem Wort“. Hier heißt es konkret: „Erhalte uns, Herr, bei deinem Wort und steure deiner Feinde Mord“. Es wird unterstellt, dass Andersgläubige, die als Feinde Gottes erkannt werden, andere ermorden. Diese Behauptung verbindet Luther mit der Bitte an Gott, die imaginierten Gräueltaten derer, die hier als seine Feinde bezeichnet werden, zu unterbinden. Andere als Gewalttäter zu stilisieren, sie als Feinde Gottes zu deklarieren und ihnen gewalttätiges Verhalten zu unterstellen – das hat natürlich selbst etwas Gewalttätiges. Hinweise auf diese imaginierten Gräueltaten von Andersgläubigen habe ich sehr häufig in Kirchenliedern gefunden.

In welchen Liedern noch?

Ein prominentes Beispiel ist das heute noch sehr oft gesungene „Ein feste Burg ist unser Gott“ von Luther. Friedrich Engels hat das Lied nicht umsonst „die Marseillaise der Reformation“ genannt. In den ersten Strophen heißt es: „Der alt böse Feind / mit Ernst er’s jetzt meint; / groß Macht und viel List / sein grausam Rüstung ist“. Mit Kriegs- und Militärmetaphorik wird hier Stimmung gegen den Feind gemacht. Der Feind in den Kirchenliedern ist manchmal etwas Bestimmtes, wie etwa der Katholizismus, häufig aber auch nicht näher umrissen. Wenn dagegen vom Teufel, dem personifizierten Bösen, die Rede ist, dann hat das oft auch eine selbstreflexive Dimension: „Der Feind“ meint dann den Feind in uns, das Kreatürliche, das Grausame, das jedem Menschen eigen ist. Mahnendes Zeugnis legen hier die Passionslieder ab, in denen es ganz explizit um die Gewalt geht, die Jesus für und durch die Menschen erlitt. Sie können als Selbstermahnung oder auch Kasteiung verstanden werden. In Paul Gerhardts „Oh Haupt voll Blut und Wunden“ (1656) heißt es: „Was du, Herr, hast erduldet, ist alles meine Last / ich, ich hab es verschuldet, was du getragen hast.“

Gibt es Unterschiede zwischen katholischen und evangelischen Kirchenliedern mit Blick auf deren Gewaltpotenzial?

Auf beiden Seiten finden wir Gewaltpotenziale: Ein katholisches Gegenstück – in Bezug auf Metaphorik und Sprachgebrauch – zu Luthers „Ein feste Burg ist unser Gott“ ist das rund 300 Jahre später gedichtete Lied „Ein Haus voll Glorie schauet“ von Joseph Mohr. In gleichsam  Kriegsmetaphorischer Art und Weise wird ein feindliches Gegenüber adressiert und der eigene Glaube beschworen. Hier spielt die Maria auf der Burgmauer eine zentrale Rolle, es ist die Rede von Tausenden Menschen, die „mit heil’ger Lust“ ihr Blut vergießen, der „heil’ge Streit“ und der „ew’ge Sieg“ werden besungen. Das Lied ist gegenwärtig zwar noch im „Gotteslob“ zu finden, allerdings in unmilitärischer Sprache und stark veränderter Form.

Welche Lieder würden Sie aus den heutigen Gesangbüchern streichen?

Vor allem Missionslieder, die zu offener Gewalt aufrufen. Das Christentum war in früheren Zeiten von dem Gedanken getragen, dass es die einzige, die beste, die wahre Religion ist, die man mit dem Schwert ausbreiten muss. Wenn Leute nicht freiwillig konvertierten, hat man nachgeholfen. Ich finde, das ist heute noch ein brisantes Thema. Trotz eines veränderten Umgangs ist, wie gesagt, noch gegenwärtig die Rede davon, das Feuer des Christentums auszubreiten.

Zusammen singen, Diffamierungen der Gegner – das gibt es ja auch in anderen Bereichen, im Fußballstadion zum Beispiel.  Inwiefern wohnt bereits dem gemeinsamen Singen ein Gewaltpotenzial inne?

Gemeinsames Singen kann der gemeinsamen Aufrüstung dienen. Seit eh und je haben Soldaten beim Marschieren gesungen. Singen und im Gleichschritt marschieren, so fügt sich der Einzelne in die Gemeinschaft ein, vergisst vielleicht auch die persönlichen Bedenken und fühlt sich in der Gruppe stark. Durch das gemeinsame Singen hat man die Kampfbereitschaft, das Aggressionspotenzial gestärkt. Das ist bestimmt im Fußballstadion genauso. Wer gemeinsam singt, der übertönt den Einzelnen und lässt denjenigen verstummen, der nicht mitsingt. Man kann hier von einer Art Klanggewalt sprechen. Allerdings: Gemeinsames Singen dient nicht per se nur zur Herabsetzung des Gegners, es ist auch ein Zeichen der Erbauung: Man spricht sich gegenseitig Mut zu und verleiht dem eigenen Glauben und den Emotionen eine Stimme.

Wie haben Christen eigentlich auf die Ergebnisse ihrer Forschung reagiert?

Ich habe das erste Mal etwas erlebt, was man als Shitstorm bezeichnet. Ich habe wütende und massiv anfeindende Zuschriften aus der fundamental-christlichen Ecke bekommen. Darin stand zum Beispiel, dass ich mal ein paar Monate nach Berlin-Kreuzberg gehen müsste, um zu verstehen, was Gewalt sei. Die Gewaltperspektive in Kirchenliedern zu erkennen, scheint manche Christen schon sehr in ihrem Selbstverständnis zu treffen. Ich habe andererseits auch viel Zustimmung erfahren, als ich meinen Vortrag gehalten und meine Ergebnisse in einem Aufsatz veröffentlicht habe.

Es gibt auch viele Kirchenlieder, in denen es um die Botschaft des Friedens in der Welt geht. Welche dieser Lieder gefallen ihnen besonders gut?

In der Weihnachtszeit singe ich immer gerne „Ich steh an deiner Krippen hier“ von Paul Gerhardt. Es ist durch die Ich-Perspektive sehr innig und persönlich gehalten. Für die Sommerzeit mag ich wirklich sehr Zeilen aus dem Lied „Geh aus, mein Herz, und suche Freud“, auch von Paul Gerhardt. Wenn es da heißt „Geh aus, mein Herz, und suche Freud / in dieser lieben Sommerzeit / an deines Gottes Gaben; / schau an der schönen Gärten Zier / und siehe, wie sie mir und dir / sich ausgeschmücket haben“, dann entsteht ein friedliches, idyllisches Bild – das komplette Gegenteil von Gewalt.