Paradieshemden

Himmel, Hölle, Paradies: Was mag kommen nach dem Tod? Wie sich Christen das ewige Leben vorstellen, hat nicht immer damit zu tun, was in der Bibel steht – aber umso mehr mit ihrem irdischen Leben.

Text: Anne Meyer
Fotos: Eric Lichtenscheidt

Michael ist sich nicht sicher, ob er nach seinem Tod ins Paradies kommt. Eins aber glaubt er ganz bestimmt: „Elektronische Geräte gibt es dort nicht.“ Stattdessen, so glaubt Michael, leben die Menschen an diesem Ort in Holzhütten, die auf einer großen Wiese mit schönen roten Rosen verteilt sind, und in der Mitte steht ein Brunnen. Die Sonne scheint den ganzen Tag, es gibt keine Kriege mehr, und die Menschen essen leckere Speisen und spielen Tennis.

Michael ist 13 Jahre alt und hat sich in letzter Zeit viele Gedanken zum Paradies gemacht. Zusammen mit seinen Mitschülern der sechsten Klasse der Gesamtschule im oberbergischen Waldbröl hat er an einem Kunstprojekt gearbeitet, das den Titel „Und wenn das letzte Hemd doch Taschen hätte“ trägt. Zwei Mitarbeiterinnen des Ambulanten Johanniter-Hospizdienstes vor Ort haben mit den Schülerinnen und Schülern im Unterricht sogenannte Paradieshemden beklebt, bemalt und bestickt – farbenprächtige Gewänder, die so gar nichts mit den bleichen Totenhemden zu tun haben, die man sonst so kennt. Die Schüler haben die Hemden mit Blumen, Regenbogen und bunten Pailletten verziert, andere Menschen aus der Stadt haben die Taschen mit Dingen gefüllt, die sie gerne auf ihre letzte Reise mitnehmen würden: zum Beispiel einen Karnevalsorden, eine Flöte oder ein Notizbuch.

Glauben diese Menschen tatsächlich, dass man Musikinstrumente mit ins Jenseits nehmen kann? „So direkt wohl nicht. Es geht bei dem Projekt auch eher darum, seine Gedanken zu Tod und Sterben auszudrücken – und das Thema ein Stückchen aus der Tabuzone zu holen“, sagt Sabine Achenbach, eine der Projektleiterinnen vom Ambulanten Johanniter-Hospizdienst für Morsbach, Reichshof und Waldbröl.

Was nach dem Tod geschieht, ist eines der letzten großen Geheimnisse der Menschheit. Laut einer von der evangelischen Zeitschrift chrismon in Auftrag gegebenen Umfrage aus dem Jahr 2012 glauben 48 Prozent der Deutschen, dass mit dem Tod alles aus ist – fast genauso viele (46 Prozent) sind überzeugt, dass „die Seele des Menschen in irgendeiner Form weiterlebt“. Je jünger die Befragten sind, desto eher glauben sie an ein Leben nach dem Tod. Und wenn es nach dem Tod irgendwie weitergeht – warum sollte es an diesem Ort keine Musik geben? Warum nicht Karneval gefeiert werden?

Die zwölfjährige Melina findet den Gedanken jedenfalls überhaupt nicht abwegig. Deshalb hat sie sich auch sehr über den Karnevalsorden gefreut – den hat nämlich jemand in das von ihr gestaltete Paradieshemd gesteckt. „Das ist ein toller Zufall, denn ich feiere selbst gerne Karneval!“ Als sie mit der Arbeit an ihrem Hemd begann, war gerade ihr Hund gestorben. Melina glaubt, dass er jetzt im Paradies ist – „auf einer großen Blumenwiese mit vielen Schmetterlingen“.

Da ist sie wieder, die Blumenwiese. Was aber steht eigentlich in der Bibel dazu? Sieht das Paradies wirklich so blumig aus? Dass viele sich einen Garten vorstellen, wundert nicht: Das Wort Paradies stammt aus dem Altiranischen und meint einen umfriedeten Park. Ursprünglich ist in der Genesis-Erzählung des Alten Testaments auch nur vom „Garten Eden“ die Rede gewesen. „Erst in der griechischen Übersetzung des Alten Testaments wird der Garten Eden als Paradies bezeichnet“, sagt Michael Hüttenhoff, Professor für Historische und Systematische Theologie an der Universität Saarbrücken.

Der Garten Eden, in dem die Menschen in einem paradiesischen Zustand lebten, ist in Genesis, Kapitel 2, ausführlich beschrieben: „Ein Strom entspringt in Eden, der den Garten bewässert; dort teilt er sich und wird zu vier Hauptflüssen …“ In Eden lebe der Mensch in Eintracht mit den Tieren und könne sich ohne Mühe ernähren. Erst, als ihm das friedliche Zusammensein mit Gott nicht mehr genüge und er vom Baum der Erkenntnis isst – Sündenfall! –, werde er aus dem Paradies vertrieben.

Diese Geschichte ist wohl eine der bekanntesten aus der Bibel – und sie hat in den Menschen seit jeher die Sehnsucht geweckt, an diesen Ort dereinst zurückzukehren. Im Christentum hat sich die Vorstellung von einem Paradies herausgebildet, das seinen Ort im Himmel hat und in das Christen nach dem Tod einzugehen hoffen. Dieses, das jenseitige Paradies der Christen, ist jedoch – das mag für viele eine Enttäuschung sein – in der Bibel viel weniger klar beschrieben. Im Neuen Testament fällt das Wort nur an drei Stellen, und einen kleinen Vorgeschmack, wie es dort aussieht, gibt allein Johannes in seiner Offenbarung: Das Himmlische Jerusalem habe einen Garten mit Bäumen des Lebens als Nahrung. Es werde keine Nacht mehr geben, Gott selbst werde das Licht sein. (Offenbarung 21)

Gute Nachricht für die Schüler, die sich das Leben nach dem Tod sehr anschaulich ausmalen: Wenn auch nicht von Tennis oder Holzhütten die Rede ist, so nimmt die Offenbarung des Johannes die Vorstellung von einem Garten wieder auf. Je älter die Menschen werden, desto größer werden aber offenbar die Zweifel an dieser Idylle. Bei den über 60-Jährigen glauben 60 Prozent, dass nach dem Tod nichts mehr kommt, nur noch jeder Dritte (34 Prozent) ist überzeugt, dass die Seele weiterlebt.

„Ich glaube an ein Verbundensein mit Gott nach dem Tod“, sagt Willi Mirth (Foto: © Eric Lichtenscheidt)
„Ich glaube an ein Verbundensein mit Gott nach
dem Tod“, sagt Willi Mirth, Foto: Eric Lichtenscheidt

Auch Willi Mirth kann mit dem Begriff „Paradies“ nur wenig anfangen. Der gläubige Protestant lebt im Bergischen Land, ist 75 Jahre alt und hat in seinem Leben viel gearbeitet, war Berater in der Kunststoffbranche. Als er jedoch in den Ruhestand ging, verlangte es ihn danach, etwas Soziales zu machen. „Ich wollte näher bei den Menschen sein“, sagt Willi Mirth. Also fing er an, ehrenamtlich als ambulanter Hospizhelfer zu arbeiten und begleitet nun schon seit acht Jahren schwerkranke Menschen beim Sterben. Er glaubt fest daran, dass es nach dem Tod weitergeht: „Ich glaube an ein Verbundensein mit Gott nach dem Tod“, sagt Willi Mirth.

Er und andere Christen, die dem Jugendalter längst entwachsen sind, können mit den Begriffen „Ewiges Leben“ und „Reich Gottes“ meist mehr anfangen. Auch diese Worte kommen in der Bibel vor – und sie sind nach Auskunft des Theologen Hüttenhoff für viele Menschen auch wesentlich wichtiger als das Paradies. „Das Reich Gottes ist ein Zustand, in dem sich der Wille Gottes durchgesetzt hat“, sagt Hüttenhoff. „Dein Reich komme“, heißt es im Vaterunser. Und im Matthäusevangelium steht, was geschieht, wenn das Reich Gottes naht: „Blinde sehen, Lahme gehen, Kranke werden auf den Weg der Heilung gebracht.“ (Matthäus 11,5)

Im Ewigen Leben wiederum ist laut Neuem Testament der Tod überwunden und der Mensch mit Gott verbunden. Darauf hofft Willi Mirth – aber nicht nur das. „Je älter ich werde, desto mehr hoffe ich auch auf ein Verbundensein mit anderen Menschen. Ich wünschte, ich könnte meiner verstorbenen Mutter und meinem Bruder wiederbegegnen“, sagt der Hospizhelfer. Nach dem Tod seiner Mutter habe er noch lange Zeit immer wieder geträumt, sie habe ihn gerufen. „Vielleicht war das ein Zeichen?“

Laut der erwähnten Umfrage hoffen 62 Prozent aller Menschen in Deutschland, dass sie im Jenseits ihren Lieben wiederbegegnen. Dass diese Gedanken vor allem ältere Menschen beschäftigen, wundert Hüttenhoff nicht – schließlich müssen sie häufiger als junge erleben, wie geliebte Ehepartner, Geschwister oder Angehörige sterben. Gibt die Bibel denn Anlass zur Hoffnung? Theologe Hüttenhoff zitiert den Theologen Karl Barth. „Er wurde einmal gefragt: ‚Herr Professor, sehen wir nach dem Tod eigentlich all unsere Lieben wieder?‘ Seine Antwort: ‚Ja, aber die anderen auch!‘“

Allzu biedermeierlich sollte man sich das Leben nach dem Tod also nicht vorstellen. Es gibt da ja auch noch diese zweite Möglichkeit, die die Bibel für das Jenseits bereithält: die Hölle. Doch ob 75-jähriger Hospizhelfer oder 13-jähriger Gesamtschüler – an die Hölle mag heute kaum mehr jemand glauben. Laut chrismon-Umfrage glauben überhaupt nur noch zwölf Prozent aller Deutschen, dass böswillige Menschen in die Hölle kommen. Die moderne evangelische Theologie sei, abgesehen von manchen traditionalistischen Strömungen, von der Hölle abgerückt, sagt Michael Hüttenhoff.

Aber wie sieht es denn nun aus, das Leben nach dem Tod, wie man es auch immer nennen mag? Hüttenhoffs Antwort mag für viele Christen enttäuschend sein: „Die moderne Theologie warnt davor, die biblischen Aussagen zu wörtlich zu nehmen, sie geht mehr übers Bildhafte.“ Immerhin darauf können Gläubige aber hoffen: „Das Paradies ist nach wie vor Sinnbild eines künftigen Heilszustands, in dem Gott und Menschen in einer Gemeinschaft leben werden“, so Hüttenhoff. Die Gemeinschaft spiele eine wichtige Rolle.

Einen künftigen Heilszustand erwarten die meisten Christinnen und Christen also nach dem Tod – und da ist es klar, dass für die einen Musik nicht fehlen darf, für den anderen das Lieblingsbuch oder eben der Karneval. So sind die Vorstellungen vom Jenseits immer auch Ausdruck vom Leben, das die Menschen im Hier und Jetzt führen. Der sportliche Michael träumt von Tennisplätzen, Melina will ihrem Hund wiederbegegnen und Willi Mirth seiner geliebten Mutter.

Weil er daran glaubt, dass mit dem Tod nicht Schluss ist, hat er auch keine Angst, wenn er in die Zukunft schaut. In seiner langjährigen Arbeit als Hospizhelfer hat er die Erfahrung gemacht: „Es fällt leichter zu sterben, wenn man glaubt.“ Das sagt zwar nichts darüber aus, dass es nach dem Tod irgendwie weitergeht. „Wissen können wir das auch nicht, nur hoffen.“

Fotogalerie

„Und wenn das letzte Hemd doch Taschen hätte“ – eine Ausstellung des Ambulanten Johanniter-Hospizdienstes für Morsbach, Reichshof und Waldbröl (Fotos: Eric Lichtenscheidt)