Die Heimsuchung

Vielleicht ist nicht der Mensch, sondern Gott der Grund allen Übels? Ein heimsuchender Gott, wie ihn Philip Roth in seinem Roman „Nemesis“ beschreibt.

 

Die Geschichte beginnt in den USA während des Zweiten Weltkriegs. Bucky Cantor ist Sportlehrer und will alles in seiner Macht Stehende tun, um seine Schüler vor einer Polio-Epidemie zu bewahren. Ohne es zu wissen, steckt er zahlreiche von ihnen an, da er selbst infiziert ist und zunächst nichts von den Symptomen der Krankheit merkt. Er verzeiht es sich nie – und klagt Gott an, von dem er meint, dass er einen Krieg gegen den Menschen führt.

Jahrzehnte später trifft Bucky in den Straßen von Newark auf einen Schüler, dem er einst die Krankheit übertragen hat. Bucky ist zerfressen von Schuldgefühlen, lebt isoliert und verarmt am Stadtrand. Sein ehemaliger Schüler Arnold, ebenfalls von Polio gezeichnet und stark behindert, fragt Bucky, als sie im Café sitzen: „Wie verbittert sind Sie eigentlich, Bucky?“ Die Antwort ist ebenso schlicht wie deprimierend: „Gott hat meine Mutter bei meiner Geburt getötet“, sagt Bucky. „Gott hat mir einen Vater gegeben, der ein Dieb war. Gott hat mir Kinderlähmung gegeben, und ich habe sie an mindestens ein Dutzend Kinder weitergegeben (…) Wie verbittert sollte ich denn sein? Sagen Sie es mir?“

Verzweiflung und Anklage

Es ist die Frage nach der Theodizee, die so alt ist wie die  Menschheit: Warum lässt Gott zu, dass Menschen von Plagen, Krankheit und Leid heimgesucht werden? Für Bucky muss ein Rachegott hinter allem stehen, der wirkt und waltet und zerstört, was Menschen lieben. Ein Gott, der ihnen in der dunkelsten Ecke auflauert – wie „Nemesis“, eine griechische Rachegöttin, nach der Philip Roth seinen Roman benannt hat.

Die Parallelen zur biblischen Erzählung von Hiob liegen auf der Hand. Auch Hiob ist gezeichnet: Sein Körper ist durch Geschwüre entstellt, bei einem Sturm sterben seine zehn Kinder. Die Schicksalsschläge, die ihn ereilen, lassen ihn verzweifeln. Hiob verliert aber den Glauben nicht daran, dass Gott es gut mit ihm meint – anders als Bucky: „Irgendjemand muss das alles ja gemacht haben“, sagt er, zu ausgelaugt, um sich auf Gedankenspiele einzulassen.

Arnold beginnt das von Schmerz geprägte Gottesbild zu interpretieren. Er vermutet, dass Bucky an „einen großen Verbrecher“ glaubt. Sein alter Lehrer sehe „das Göttliche als Feind unserer Existenz“, resümiert Arnold: „Nur eine feindliche Gottheit konnte eine Krankheit wie die Kinderlähmung erschaffen. Nur eine feindliche Gottheit konnte den Zweiten Weltkrieg erschaffen. Wenn man alles zusammennahm, sprach vieles für die Existenz einer feindlichen Gottheit. Und sie war allmächtig.“ Buckys Vorstellung von Gott sei letztlich „die von einem allmächtigen Wesen, das keine Dreifaltigkeit war wie im Christentum, sondern eine Zweifaltigkeit – die Vereinigung eines perversen Arschlochs mit einem bösartigen Genie“.

Das Leben eines Märtyrers

Philip Roth beschreibt das Leben eines Märtyrers, der verbittert nach einem Grund für das Geschehene fragt und das Wirken der Gewalt Gottes beklagt: „Er muss fragen: Warum? Warum? Dass das Ganze sinnlos, zufällig, absurd und tragisch ist, stellt ihn nicht zufrieden“, vermutet Arnold. „Also forscht er verzweifelt nach einem tieferen Grund, dieser Märtyrer, die Suche nach dem Warum wird zur Manie, und er findet es entweder bei Gott oder in sich selbst oder – mysteriös und mystisch – in der schrecklichen Vereinigung dieser beiden zu einem einzigen Zerstörer.“

Der Roman ist eine Abrechnung mit einem Gott, der seine Gewalt unerbittlich gegen die Menschen richtet. Roth beschreibt dies meisterhaft, weckt Sympathien für seine Figuren; grundehrliche Charaktere, die rechtschaffen sind und von Schlägen getroffen strauchelnd zu Boden sinken. Am Ende bleibt die Frage: Warum? Warum wirken Krankheit und Elend, Mord und Totschlag so bahnbrechend in der Welt? Für Bucky ist die Gewalt Gottes verantwortlich, ein Feind, gegen den er sich nicht zu wehren vermag.

Text: Thomas Becker

Buch

Philip Roth: Nemesis, Carl Hanser Verlag, 2011

Aufmacherbild: „Gerechtigkeit und die göttliche Rache verfolgen das Verbrechen“. Gemälde von Pierre Paul Prud’hon, 1808. (Foto: gemeinfrei)