Die Logik von TNT

Beim Theaterstück „Ichglaubeaneineneinzigengott.hass“ verschwimmen die Grenzen zwischen Fiktion und Realität. Eine Nachlese.

 

Polizisten stehen vor dem Theater, gut hundert Meter vom Weihnachtsmarkt in Essen entfernt, und klammern sich an ihre Maschinengewehre. Autos eines Sicherheitsdienstes parken quer in Zufahrtsstraßen, damit nicht noch einmal geschieht, was vor einer Woche in Berlin geschah: als der Attentäter Anis Amri mit einem Lastwagen in eine Menschenmenge fuhr, zwölf Menschen umbrachte und 56 weitere zum Teil schwer verletzte.

Der Anschlag bestimmt die Gespräche in diesen Tagen und wirft seinen Schatten auch in die „Casa“ des Schauspiels Essen. Aufgeführt wird dort das Stück „Ichglaubeaneineneinzigengott.hass“ des italienischen Autors Stefano Massini. Verortet ist es in Israel und Palästina zu Zeiten der Zweiten Intifada, kurz nach der Jahrtausendwende – eine Zeit, in der zahlreiche Terroranschläge in Bussen, Restaurants und einer Diskothek verübt wurden.

Im Stück sind die Monologe dreier Frauen ineinander verschachtelt, alle gespielt von Schauspielerin Stephanie Schönfeld. In einer Person vereinen sich also die Weltanschauungen und religiösen Überzeugungen dreier Frauen, die sich im Verlauf des Stücks radikalisieren.

Da ist zum Beispiel Eden, die Historikerin, 50 Jahre alt: „Ich lehre Jüdische Geschichte, gewiss. Genau deswegen bin ich auch keine Hardlinerin. Denn wenn es ein Gegenmittel gegen das Hardlinertum gibt – das sage ich immer – dann ist es tatsächlich die Geschichte: Sie bringt einem bei, genau zuzuhören. Immer.“ Nachdem sie einen Bombenanschlag nur knapp überlebt, beginnt Eden zu zweifeln. Angst trübt ihre zuvor toleranten Ansichten. „Der Sprengstoff hält sich nicht mit Geschwätz auf“, sagt sie. „Das TNT kennt die Propheten und die Geschichte nicht. Es explodiert. Und das war’s dann.“ Nein, sie wolle keine Rache, nur Sicherheit. Und eine Mauer. „Ich will sie unüberwindbar.“

Schwenk auf Shirin, eine Muslima, 20 Jahre alt. Sie studiert die Geschichte Palästinas an der Islamischen Universität Gaza. Als Märtyrerkandidatin spricht sie bei einer terroristischen Brigade vor. „Der Sache dienen, Rache nehmen für die, die uns genommen wurden, im Namen Allahs handeln, die Situation ändern, ohne abzuwarten, nicht vor denen das Haupt beugen, die uns besetzen.“ Shirin gelobt, sich an diese fünf Gebote zu halten.

Ihr geht es um „Gerechtigkeit“ – und im Radio hört sie Nachrichten von extremistischen Juden, die einen Friedhof verwüstet haben, von Raketen aus Israel, die in palästinensischen Gebieten einschlagen, und die Predigt eines Imams, der fragt: „Was wirst du antworten, wenn du gefragt wirst, was du getan hast gegen das Unheil von Ramallah?“

Das Stück spielt mit Perspektiven, die sich verhärten, gibt dem Fanatismus ein Gesicht. Und lässt vermuten, dass der Glaube an Gott nicht die alleinige Schuld, aber doch eine Mitschuld am Unheil trägt. Das jedenfalls ist die Perspektive der US-amerikanischen Soldatin Mina. Solange sich niemand um Religion schere, drohe keine Gefahr. „Bei mir zu Hause, wo ich geboren bin, ist die Kirche nicht viel mehr als ein Zimmer, und das habe ich noch nie voll gesehen“, sagt sie.

In Israel und Palästina berufe sich dagegen ein jeder auf seine Religion. Ständig gebe es „einen neuen Gott, der ‚Privateigentum‘ schreit“, worauf ein anderer Gott zurückschreie: „Ich war zuerst da!“ Am Ende wisse niemand mehr, wer Opfer und wer Täter sei. „Es ist ein Labyrinth. Zum Verrücktwerden. Die einen wie die anderen, alle beide: gleich.“

Das Stück relativiert durch den ständigen Perspektivwechsel die Ansichten von drei Frauen. Sie alle sind gefangen in ihrer Subjektivität, nicht mehr in der Lage, die Perspektive der anderen wahrzunehmen. Allein der Zuschauer vermag den Überblick zu behalten und zu erkennen, dass sich ganz unterschiedliche Extreme in einer Person vereinen, die sich je nach politischer Lage entfalten und ihre Ziele suchen. Religionen werden da nur allzu leicht für eigene Zwecke gebraucht, um Gewalt zu legitimieren. Ob das legitim ist, steht auf einem anderen Blatt. Aber um tiefentheologische Grundsatzdiskussionen geht es im Stück ohnehin nicht, sondern vielmehr darum, Psychogramme dreier Frauen zu zeichnen. Und darum, dass der Glaube an Gott als Brandbeschleuniger wirken kann, wenn sich Perspektiven verengen und Charaktere von Fanatismus getrieben werden. Was dann zählt, ist die Logik von TNT. Religion wird zur Funktion – und zündet.

Text: Thomas Becker

 

Stephanie Schönfeld in der Inszenierung „Ichglaubeaneineneinzigengott.“ von Stefano Massini; Regie: Sascha Flocken / Fotos (auch oben): Diana Küster

www.schauspiel-essen.de