Der lange Weg zum Frieden

Ein Muslim und ein Sikh über Tischgemeinschaften, spirituelle Reinigung und eine Weisheit, die alle Menschen verbindet.

 

Interview: Thomas Becker, Dagmar Paffenholz

 Fotos: Markus J. Feger

 

 

Muhammad Sameer Murtaza, Jahrgang 1981, ist ein deutsch-pakistanischer Islam- und Politikwissenschaftler. Er arbeitet als freiberuflicher Mitarbeiter für die Stiftung Weltethos, die der katholische Theologe Hans Küng gegründet hat, und lebt in Bad Kreuz nach. Zuletzt erschien von ihm: „Die gescheiterte Reformation: Salafistisches Denken und die Erneuerung des Islam“ (2016).

Damandeep Singh, Jahrgang 1991, hat den Sikh Verband Deutschland mitgegründet, dem er als Vorstandsmitglied angehört. Er lebt in Köln und studiert Wirtschaftsingenieurwissenschaften an der Technischen Hochschule Köln. Regelmäßig reist er durch Deutschland und hält Vorträge, um über die Religion der Sikhs aufzuklären.

 

debatte: Herr Singh, Sie sind Sikh und tragen einen Turban. Werden Sie oft mit einem Muslim verwechselt?

Damandeep Singh: Das kommt häufiger vor. Früher habe ich erlebt, dass Jungen in der Schule ausgelacht werden, wenn sie ihre langen Haare zu einem Dutt binden und mit einem Tuch bedecken. Patka nennen wir das. „Der trägt ’ne Zwiebel auf dem Kopf und ist ein Döner“, solche Sätze habe ich gehört. Wegen des Turbans gibt es manchmal auch Schwierigkeiten bei der Jobsuche. Als ich mich um einen Studentenjob in einem Fahrradladen in Köln beworben habe, meinte der Inhaber: „Schneid den Bart ab, leg den Turban ab, dann kannst du morgen anfangen.“ Das habe ich natürlich abgelehnt – und später einen besseren Job bei einem Maschinenbauunternehmen gefunden.

Herr Murtaza, welche vorurteile begegnen Ihnen als Muslim?

Muhammad Sameer Murtaza: Wenn ich Vorträge über die islamische Friedenstheologie oder -bewegung halte, ist mir in den letzten Monaten aufgefallen, dass der Ton im Plenum und überhaupt der Diskurs rauer geworden sind. Zuhörer kommen mit einem bestimmten Islamverständnis zu Veranstaltungen und bezeichnen mich als Lügner, wenn ich etwas über Friedensstifter im Islam erzähle. Sie wollen hören, was sie schon zu wissen meinen. Da hat das Postfaktische Einzug gehalten – als würde es nicht auch eine über Jahrhunderte währende Friedenstradition im Islam geben und einen historisch kontextuellen Umgang mit Texten. Die Meinung über den Islam ist stark geprägt von Anschlägen, die in jüngster Zeit verübt wurden.

Singh: Wir merken das auch: Als Sikhs werden wir wegen unseres Turbans teilweise mit Terroristen verwechselt. Das hat seit dem 11. September 2001 zugenommen, da Osama bin Laden seinen Turban in ähnlicher Weise gebunden hat wie wir. Vorurteile sind letztlich darin begründet, dass kaum jemand etwas über die Sikhs weiß. Deswegen haben wir vor vier Jahren den Sikh Verband Deutschland gegründet. Wir besuchen Schulen und Unternehmen, öffnen die Türen unserer Gebetsstätten, beteiligen uns am interreligiösen Dialog und informieren mit Print- und Digitalmedien über unsere Religion.

Was erhoffen Sie sich davon?

Singh: Unsere Vision ist es, die Sikh-Identität, die Sikh-Philosophie und unsere Lehre auf professionelle Weise vorzustellen. In den Schulen sitzen schließlich die Ministerpräsidenten und Bundeskanzler von morgen. Sie sollen etwas über uns und unseren Beitrag zum Frieden erfahren. Religion ist ein sehr, sehr sensibles Thema. Im Namen von Religionen sterben Menschen. Wir müssen uns damit auskennen, das ist sehr wichtig, gerade in der heutigen Zeit.

In Essen gab es im April 2016 einen Bombenanschlag auf einen Gurdwara, also auf eine Sikh-Gebetsstätte. Was genau ist passiert?

Singh: Bei der Explosion sind drei Gemeindemitglieder verletzt worden, einer davon schwer. Nur fünf Stunden vorher hatte dort eine Hochzeit mit mehreren hundert Gästen stattgefunden. Es hieß zunächst, die Täter hätten unseren Gurdwara mit einem Hindu-Tempel verwechselt. Aber ob der Anschlag nun einem Hindu- oder Sikh-Tempel galt, einer Kirche, Moschee oder Synagoge, ist irrelevant. Es zeigt sich einfach, dass die Täter nicht in der Lage waren, das eine Licht Gottes in allen anderen Religionen zu sehen. Terroristen, die sich auf eine Religion berufen, fehlt es an Orientierung, an Spiritualität. Ohne spirituelle Weisheit dreht die Welt durch.

Murtaza: Wir erleben derzeit eine Welle der Gewalt, die im Namen des Islam ausgeübt wird. Die Überwindung dieser Gewalt ist die größte Herausforderung für die Muslime in der Gegenwart. Wir dürfen nicht mit Ausweichstrategien antworten wie: „Gewalt hat nichts mit dem Islam zu tun“ oder „Der Islam kennt einzig und allein den Frieden“. Mit solchen Sätzen vermeiden Muslime die Auseinandersetzung. Wir brauchen eine religionskritische Analyse – übrigens nicht nur im Islam. Wir haben Taliban-Texte in allen religiösen Schriften der drei abrahamischen Religionen.

MUHAMMAD SAMEER MURTAZA: „Wir brauchen eine religionskritische Analyse – nicht nur im Islam.“

Welche Texte meinen Sie?

Murtaza: Zum Beispiel sogenannte Schwertverse. Im Koran heißt es: „Und wenn nun die heiligen Monate abgelaufen sind, dann tötet die Heiden, wo immer ihr sie findet, greift sie, umzingelt sie und lauert ihnen überall auf!“ (Sure 9,5) Im Neuen Testament finden wir den von Jesus überlieferten Ausspruch: „Ich bin nicht gekommen, Frieden zu bringen, sondern das Schwert.“ (Matthäus 10,34) Und im Alten Testament werden kriegerische Auseinandersetzungen im Namen Gottes geführt: „Ruft dies aus unter den Völkern! Heiligt euch zum Krieg! (…) Macht aus euren Pflugscharen Schwerter und aus euren Sicheln Spieße! (Joel 4,9-10)

Wie gehen Sie als Islamwissenschaftler mit solchen Sätzen um?

Murtaza: Die Texte der abrahamischen Religionen sind nah am Leben. Das heißt, in den Texten wird immer wieder von Menschen erzählt, die mit Gewalt konfrontiert waren, sich wehren und verteidigen mussten. Aber genauso gibt es Texte, in denen vom Frieden die Rede ist, auch im Koran: „Gott lädt ein  zum Haus des Friedens“ (Sure 10,25). An anderer Stelle heißt es, dass die Menschen grundsätzlich barmherzig miteinander umgehen sollen. (Sure 60,8-9)

Religionen tragen also sowohl Gewalt- als auch Friedenspotenziale in sich?

Murtaza: Durchaus: Religion kann für Krieg und Gewalt, aber auch für den Frieden instrumentalisiert werden, das zeigt sich mit Blick auf die wechselvolle Geschichte. Religion existiert eben nicht im luftleeren Raum, gerade nicht in Zeiten der Globalisierung. Auch gesellschaftliche und politische Faktoren spielen eine wesentliche Rolle dafür, in welche Richtung das Potenzial genutzt oder missbraucht wird. Eine religiöse Gemeinschaft wird sich beispielsweise anders verhalten, je nachdem, ob sie sich als ein Akteur in einem säkularen Staat sieht oder ob sie eine vorherrschende Stellung für sich beansprucht. Nehmen wir den Buddhismus, der als sehr friedfertige Religion gilt: In Myanmar beteiligen sich buddhistische Mönche an Pogromen gegen die muslimische Minderheit der Rohingya. Eine Gemeinschaft muss also bestimmen, welches der beiden Potenziale das Primat in der Religion hat und dann für dieses in der Welt einstehen.

Welchen Umgang empfehlen Sie Religionsgemeinschaften mit dem Gewaltpotenzial in ihren Schriften?

Murtaza: Keiner kann die schwierigen Verse einfach ausradieren. Wir können keine Bibel 2.0 und keinen Koran 2.0 erstellen, sondern müssen lernen, mit schwierigen Textstellen umzugehen. Die Aufgabe der Religionsgemeinschaften ist zu vermitteln, wie das gelingen kann. Dieser mühselige Lernprozess gehört zu einem erwachsenen, mündigen Glauben. Hierzu gehört es, zu augenscheinlich destruktiven Textstellen auch einmal Nein zu sagen und sie dann mittels der Exegese zu kontextualisieren.

Es gibt eine lange Tradition der Gewaltlosigkeit im Islam – auf welchen Schriften beruhen sie?

Murtaza: Zum Beispiel auf denen des zeitgenössischen Gelehrten Jawdat Said, geboren 1931 in Syrien. Er hat eine Ethik der Gewaltlosigkeit begründet, die einen kompletten Gewaltverzicht fordert, bis zur Bereitschaft der eigenen Auslöschung. Seine Lehre stützt sich auf die Erzählung von Kain und Abel im Koran. Im Unterschied zur biblischen Version liegt der Schwerpunkt auf Abel und seiner Begründung, weshalb er der Bedrohung durch Kain nicht mit Gewalt begegnet. „Wahrlich, erhebst Du auch Deine Hand gegen mich, so strecke ich nicht meine Hand gegen Dich aus, um Dich zu töten.“ (Sure 5,28)

Wie interpretiert Said diese Stelle?

Murtaza: Für ihn ist klar: Indem der Koran beiden Söhnen keine Namen gibt – sie heißen nur Söhne Adams –, handelt es sich um eine universelle Urgeschichte, die etwas Grundsätzliches über den Menschen aussagt. Das ist die theologische Ouvertüre, mit der Said die absolute Gewaltlosigkeit im Islam begründet. Ähnliche Gedanken finden wir bei Badshah Khan, ein Muslim, der zu den engsten Weggefährten von Mahatma Gandhi gehörte. Als Vertreter eines strikt gewaltlosen Weges hat Khan in Afghanistan gewirkt und den Wider stand gegen Großbritannien mit denselben Methoden wie Gandhi unterstützt. Aktuell einflussreich in der muslimischen Welt ist auch der Friedensaktivist Maulana Wahiduddin Khan, der im indischen Delhi das Zentrum für Frieden und Spiritualität gegründet hat. Im Westen sind solche Aktivisten leider unbekannt.

Auf welche Überlegungen stützen sich Impulse zum friedlichen Miteinander der Religionen bei den Sikhs, Herr Singh?

Singh: Als Sikhs sehen wir grundsätzlich das Verbindende zwischen den Seelen. Sikh heißt „Schüler“ und bedeutet, spirituell auf der Suche zu sein. Unser Ziel ist es, respektvoll gegenüber den Mitmenschen und der Natur zu sein. Fortwährendes Gottvertrauen und das Praktizieren spiritueller Weisheit im Alltag stehen bei uns im Mittelpunkt. Wer spirituelle Weisheit verinnerlicht hat, weiß, dass das Licht Gottes allem innewohnt und sich in jedem Menschen zeigt. Deshalb missionieren wir Andersgläubige auch nicht, sondern erkennen sie als Suchende an.

DAMANDEEP SINGH: Welche Religion hat denn Gott? Das ist vollkommen irrelevant.

Wohin führt die spirituelle Suche?

Singh: Nach innen, immer tiefer. Wir müssen erkennen, dass wir nur Gast auf dieser Erde und in unserem Körper sind. Es geht darum, das Ego und negative Charaktereigenschaften zu überwinden, die in jedem Menschen wohnen. Wir nennen sie „die fünf Räuber“: Begierde, Wut, Gier, Arroganz, Verhaftung im Weltlichen.

Werden Sikhs ihrem eigenen Anspruch gerecht?

Singh: Viel zu selten. Denken wir an das Kastenwesen, das nicht nur in Indien weit verbreitet ist, wo die meisten Sikhs leben. Es beeinflusst auch die in Deutschland lebenden Sikhs, von denen noch immer viele innerhalb ihrer eigenen Kaste heiraten, obwohl unser Religionsgründer Guru Nanak schon im 15. Jahrhundert die soziale Ungleichheit kritisiert und eliminiert hat, die durch das Kastensystem entsteht. Einer seiner Nachfolger, Guru Gobind Singh, hat im 17. Jahrhundert für die männlichen Sikhs den einheitlichen Zweitnamen „Singh“ und für die weiblichen Sikhs den Namen „Kaur“ eingeführt, um die Kastennamen zurückzudrängen. Deswegen ist so wichtig, dass wir uns mit unseren Traditionen und Schriften auskennen.

Um soziale Ungerechtigkeiten zu beseitigen?

Singh: Ja, und auch, um Etikettierungen zu überwinden. „Ich bin Moslem“, „Ich bin Christ“, „Ich bin Hindu“ – das allein sind schon Abgrenzungen. Was zählt, ist aber nicht die Zugehörigkeit zu einer Religionsgemeinschaft. Welche Religion hat denn Gott, welche Kaste, welches Geschlecht? Das alles ist irrelevant. Viel wichtiger ist zu erkennen, dass spirituelle Weisheit uns verbinden kann.

Murtaza: Die spirituelle Erziehung ist auch nach islamischem Verständnis sehr wichtig. „Tazkiya“ nennen wir das, was so viel bedeutet wie „sich reinigen“. Es steckt auch das Wort „Wachstum“ drin: Indem ich mich reinige, wachse ich an mir selbst. Dazu braucht es Achtsamkeit: Wenn ich beispielsweise einen Menschen sehe, der negative Assoziationen in mir weckt, sollte ich sofort einhaken und diesen Gedanken Einhalt gebieten.

Singh: Wir müssen in uns hineinhören. Und die innere Welt ist anders als die, die wir hier draußen mit unseren Augen sehen.

Murtaza: Das klingt sehr asketisch. Religion ist meines Erachtens aber unvollkommen, wenn sie keinen Bezug zum sozialen Leben hat.

Singh: Sicher, der Dienst am Mitmenschen sowie das Bemühen, soziale Ungerechtigkeiten zu beseitigen, sind wichtige Formen der Gotteshingabe und leiten sich aus dem inneren Einklang mit unserer Quelle her. Wer sich mit Gott verbindet und erkennt, dass auch der andere eine suchende Seele hat, wird niemandem etwas zuleide tun können.

Murtaza: Jeder Mensch besitzt eine transzendente Würde, die Bibel nennt das Gottesebenbildlichkeit, der Koran versinnbildlicht dies durch die Niederwerfung der Engel vor Adam. Das bedeutet konkret, jeden Menschen wie seinen Nächsten würdevoll zu behandeln. Daraus leitet sich die goldene Regel als Auforderung ab: „Was du nicht willst, das man dir tu’, das füg’ auch keinem andern zu.“ Diesen Gedanken finden wir in der Bergpredigt, aber auch im Koran.

Welche gesellschaftlichen Rahmenbedingungen braucht es, damit spirituelle Friedenserziehung gelingt?

Murtaza: Wir benötigen Orte, an denen ein mündiger Glauben gelehrt und gelernt wird. Leider haben wir hierzulande keinen flächendeckenden muslimischen Religionsunterricht. Und wir haben bis heute keine Imam-Ausbildung in Deutschland, die eine historische Einordnung unserer Schriften und Traditionen leistet.

Singh: Deswegen gehen wir in Schulen und leisten selbst Bildungs- und Aufklärungsarbeit.

Murtaza: Das ist schön und gut, ist aber nicht zu vergleichen mit einem regelmäßigen Religionsunterricht, der von akademisch ausgebildeten Lehrern erteilt wird.

Wie können Religionen konkret vor Ort einen Beitrag zum Frieden leisten?

Murtaza: Einen höheren Stellenwert sollte eine Friedenserziehung bekommen, die bereits im Kindergarten und in der Schule beginnt. Zudem sollten Friedensstifter der Religionen im Unterricht stärker thematisiert werden. Ganz wichtig ist außerdem, bei Projekten zusammenzuwirken und auch zusammen zu feiern. Dadurch entstehen Vertrauen, Freundschaft und Gemeinschaft. Nur Reden schafft solches nicht.

Singh: Da stimme ich voll und ganz zu. Alle sagen mehr oder weniger das Gleiche, jeder ist glücklich darüber. Aber sobald man den Raum wieder verlässt, treten die Unterschiede hervor. Auch deswegen sind Menschen genervt, manche kriegen sogar Angstzustände, wenn sie nur das Wort Religion hören.

Murtaza: Wir brauchen echte Tischgemeinschaften, was übrigens auch im Koran als Gebot steht (Sure 5,5). Das kann man nicht hoch genug einschätzen. Da üben wir uns konkret in Toleranz ein, sehen das Andere, staunen und fragen nach.

Gab es ein Erlebnis, das Sie besonders geprägt hat?

Murtaza: Viele. Zum Beispiel, als ich vor einigen Jahren einen Vortrag gehalten habe und danach von einem muslimischen Theologen angefeindet wurde. Ich habe mit Hans Küng darüber gesprochen und ihn als erfahrenen katholischen Theologen um Rat gefragt, der auch vielfach Kritik einstecken musste. Er hat mir einen Tipp gegeben: mich nie auf die persönliche Ebene zu begeben, aber klar und unnachgiebig in der Sache zu bleiben. Da saß also ein junger Muslim mit einem erfahrenen christlichen Theologen zusammen, der eine lernt vom anderen. Dadurch entsteht Beziehung. So ist es auch bei unserem Gespräch heute.

Singh: Ich hatte mir ohnehin vorgenommen, das Gespräch mit Vertretern anderer Religionen zu vertiefen. Das ist ein guter Anfang. Wir sollten uns wieder treffen.