Drei Ringe, sie alle zu einen

Die Ringparabel aus Lessings Theaterstück „Nathan der Weise“ gilt als Inbegriff religiöser Toleranz. Auch heute noch?

Text: Ulrike Schrader

Nicht die Kinder bloß, speist man / Mit Märchen ab.“ Das ist der Plan, den Lessings Nathan am Ende langer Überlegungen entwirft: dem Sultan Saladin ein Märchen zu erzählen. Dabei handelt es sich um die berühmte „Ringparabel“, die Geschichte von den drei Ringen, die ein Bild sind für die drei Religionen Judentum, Christentum und Islam. Die Ringparabel, die ganz im Zeichen aufgeklärter Toleranz zeigen soll, dass die Angehörigen dieser drei Religionen sich nicht im Rechthaben bekriegen sollen, sondern, ganz im Gegenteil, sich anstrengen sollen, die Echtheit ihres Ringes, die Wahrheit ihrer Religion zu beweisen, indem sie sie „angenehm vor Gott und den Menschen“ machen. „Es eifre jeder seiner unbestochnen / Von Vorurteilen freien Liebe nach! / Es strebe von euch jeder um die Wette, / Die Kraft des Steins in seinem Ring’ an Tag / Zu legen! Komme dieser Kraft mit Sanftmut / Mit herzlicher Verträglichkeit, mit Wohltun, / Mit innigster Ergebenheit in Gott, / Zu Hülf’!“

 Das klingt sehr schön, und die Theater bemühen sich, den „Nathan“ auf der Bühne irgendwie zeitgemäß zu bringen, natürlich wegen dieser zentralen Ringparabel und weil sie daran glauben, dass man damit religiösem Fundamentalismus, Rassismus und Menschenfeindlichkeit wirkungsvoll entgegentreten könnte. Aber kann die Ringparabel tat – sächlich dazu führen, dass diese drei rechthaberischen Brüder von ihrem Streit ablassen und sich vielmehr in Sanftmut, Verträglichkeit und Wohltun messen? Wirkt die Geschichte von den drei Ringen beruhigend und friedensstiftend?

Nathan jedenfalls war davon überzeugt, sonst wäre er nicht auf diese Idee gekommen. Denn er befand sich in einer ziemlich ungemütlichen Lage, als er sich entschloss, den Sultan mit einem „Märchen“ abzuspeisen:

Es herrscht Waffenstillstand in Jerusalem. Christliche Kreuzfahrer waren über das Land hergefallen mit dem Ziel, Jerusalem von den „Mohammedanern“ zu befreien. Wer dabei dem muslimischen Herrscher Saladin in die Hände fiel, hatte mit dem Schlimmsten zu rechnen: Kopf ab. Aber Saladins Kriegskasse ist klamm, und deshalb möchte er Nathan kennenlernen, „um Geld zu fischen; Geld! – Um Geld, Geld einem Juden abzubangen; Geld! Behaglich ist ihm nicht dabei, denn Nathan eilt der Ruf der Weisheit voraus.

Die Testfrage also, mit der Saladin Nathan unter Druck setzen will, ist die Frage nach der „wahren“ unter den drei Religionen Judentum, Islam und Christentum: „Von diesen drei / Religionen kann doch eine nur / Die wahre sein.“ Und weil Saladin weiß, dass Nathan sich am Maßstab vernünftigen Denkens orientiert, provoziert er ihn noch ein bisschen: Es könne doch wohl nicht sein, dass ein denkender Mensch dort stehen bleibt, wohin der „Zufall der Geburt“ ihn werfe! Vielmehr würden doch wohl „Einsicht, Gründe, Wahl des Bessern“ bei der Frage nach der eigenen Religion hinzukommen. Der scheinbar aufgeklärte Saladin, wie Nathan und Lessing ein guter Schachspieler, verlangt von Nathan eine auf Vernunftgründen basierende Beweisführung, mit einer eindeutigen Antwort.

Nun folgt also Nathans Monolog, der einzige übrigens im ganzen Stück, und es wird deutlich, wie prekär seine Lage ist: Outete er sich als „Stockjude“ (der er vermutlich gar nicht ist) und bekennt sich zum Judentum als der „wahren“ Religion, würde das übel enden. Vielleicht nicht gerade „Kopf ab“, denn im Unterschied zu den marodierenden Christen könnte der Jude nützlich sein, indem man ihn zwingt, seine Reichtümer in die Kriegskasse zu schütten. Outet Nathan sich als indifferent, muss er damit rechnen, dass Saladin ihn zu missionieren versucht, denn „wenn kein Jude, dürft er mich nur fragen, / Warum kein Muselmann?“

 Deshalb nun das Märchen, denn ganz richtig hat Nathan schon erkannt, dass Saladin „stets / Ein Freund gewesen von Geschichtchen, gut / Erzählt.“ Und gut erzählen kann Nathan, auch er ist Orientale.

Jetzt kommt also die bekannte und eigentlich ja recht kurze Geschichte, genau genommen nur 45 Zeilen lang, an deren Ende der Vater und Erblasser der Ringe stirbt. Saladin ist nicht zufrieden mit diesem Ende und fordert ungeduldig die Auflösung des vorhersehbaren Konflikts unter den Brüdern: „der rechte Ring war nicht / Erweislich.“ Und als Saladin vor Spannung schier platzen will, folgt noch die ungeheure Deutung: „Fast so unerweislich, als / Uns itzt – der rechte Glaube.

 Für einen frommen Menschen ist das inakzeptabel, und so reagiert Saladin auch. Was, ruft er, die Religionen sind nicht zu unterscheiden? Dabei ist doch die Kleidung verschieden, die Speisen und Getränke! Sehr wohl gibt es doch große Unterschiede zwischen den Religionen! Und Saladin hat, nicht ganz ohne Grund, den Eindruck, dass Nathan ihm ein Märchen erzählt, dass er mit ihm spielt.

Nathan spürt, dass es gefährlich für ihn wird, weil Saladin nicht selbst auf die Botschaft der Geschichte kommt. Es folgt eine kleine Predigt über die Frage, was eigentlich Menschen dazu bewegt zu glauben, was sie glauben. Zwei Gründe sind es, der „Zufall der Geburt“ und das Vertrauen in die liebenden Eltern: „Nun wessen Treu und Glauben zieht man denn / Am wenigsten in Zweifel? Doch der Seinen? / Doch deren Blut wir sind? Doch deren, die / Von Kindheit an uns Proben ihrer Liebe / Gegeben? die uns nie getäuscht, als wo / Getäuscht zu werden uns heilsamer war? – / Wie kann ich meinen Vätern weniger, / Als du den deinen glauben? Oder umgekehrt. – / Kann ich von dir verlangen, daß du deine / Vorfahren Lügen strafst, um meinen nicht / Zu widersprechen? Oder umgekehrt. / Das nämliche gilt von den Christen. Nicht?“

 Saladin ist verblüfft: „Bei dem Lebendigen! Der Mann hat Recht. / Ich muss verstummen.“ An dieser Stelle hat er zunächst einmal nur verstanden, wie beschränkt und falsch seine Testfrage war: Niemand glaubt an die „wahre“ Religion, sondern an die, die einem von „den Seinen“, denen man vertraut, in die Wiege gelegt worden ist.

Welche große Rolle spielt hier das Vertrauen zwischen Kindern und Eltern, Vertrauen in die Familie, in die Gemeinde! Das hat etwas mit Gefühlen, mit Verlässlichkeit, mit Zusammengehörigkeit zu tun. Und man lernt an dieser Stelle auch etwas über den Perspektivenwechsel, über Empathie: Es geht auch anderen so. Auch sie glauben, was ihnen anvertraut würde.

Nach dieser kleinen Predigt über Geschichte, Treue und Glauben folgt nun also die Auflösung, dem Richterspruch der richterliche Rat: Nur aus Liebe zu euch hat euer Vater Kopien des Ringes machen lassen – nicht, um euch zu betrügen! Nun ist es an euch zu beweisen, dass ihr jeder den echten haben könntet! Erweisen lässt sich das nicht, jedenfalls noch nicht jetzt. In „tausend tausend Jahren“ – und das sieht auch Saladin, der Nathan am Ende die Freundschaft anbietet.

Die Ringparabel, aber vor allem Nathans Gespräch mit Saladin, kann einen Beitrag zur Überwindung der Gewalt zwischen den Religionen leisten, aber dazu müssten alle Freunde von „Geschichtchen“ zuhören, wenn sie gut erzählt werden.

Ulrike Schrader, Jahrgang 1960, ist promovierte Germanistin und Leiterin der Begegnungsstätte Alte Synagoge Wuppertal.

 

Aufmacherfoto: epd-Bild/Monika Rittershaus