Um Gottes Willen?

Gewalt im Namen der Religionen verunsichert die Welt. Der Religionssoziologe Heinrich Wilhelm Schäfer und die Indologin Dagmar Hellmann-Rajanayagam erklären, was Fundamentalisten zu Mord und Intoleranz verleitet.

Interview: Thomas Becker, Kerstin Kilanowsi, Titelfoto: epd-Bild/Daniel Peter

 

Dagmar Hellmann-Rajanayagam, Jahrgang 1952, lehrt an der Abteilung für Südostasienstudien der Universität Passau und forscht über Gewalt im Hinduismus und Buddhismus.

Heinrich Wilhelm Schäfer, Jahrgang 1955, lehrt Systematische Theologie und Religionssoziologie an der Uni Bielefeld. Autor des Buchs „Kampf der Fundamentalismen. Radikales Christentum, radikaler Islam und Europa“ (2008).

 

debatte: Im vergangenen Jahr hat eine Reihe von Anschlägen Europa erschüttert, auch in Berlin am Breitscheidplatz vor der Gedächtniskirche. Wie haben Sie reagiert, als Sie davon erfahren haben?

Dagmar Hellmann-Rajanayagam: Meine Tochter, meine Schwester und Nichten wohnen in Berlin. Ich habe sie sofort angerufen und war erleichtert zu erfahren, dass es ihnen gut geht. Meine Schwester hatte sich noch am Tag vor dem Anschlag am Breitscheidplatz aufgehalten. Weihnachten haben wir dann zusammen gefeiert und sind wie immer abends zum Gottesdienst in die Gedächtniskirche gegangen. Zu unserer Überraschung war dort keine Security postiert. Es gab auch keine Taschenkontrollen. Anscheinend hat der Pfarrer entschieden, dass das in einem Gottesdienst nichts zu suchen hat.

Hatten Sie Angst?

Hellmann-Rajanayagam: Nein. Ich dachte mir: Jetzt erst recht! Ich lasse mich von Terroristen doch nicht fertigmachen! Ich kenne das ja: In den 1980er-Jahren, als in Sri Lanka der Bürgerkrieg tobte, war ich regelmäßig vor Ort, um für meine Dissertation zu recherchieren. Seitdem ich während eines Gefechts im Kugelhagel unter einen Lastwagen gerobbt bin, ist die Angst vor Ereignissen wie in Berlin, Paris oder Nizza in mir gewichen.

Heinrich Wilhelm Schäfer: Ich finde es interessant, dass Sie von Ihren Erfahrungen in Sri Lanka erzählen. Ich habe in der gleichen Zeit in Kriegsgebieten in Guatemala und in Nicaragua gearbeitet, wo es knallharte bewaffnete Auseinandersetzungen mit zahlreichen zivilen Opfern gab. Durch diese Erfahrung habe auch ich eine andere Haltung gegenüber Vorfällen wie in Berlin bekommen.

Das Wissen um gewalttätige Auseinandersetzungen hat Ihre Perspektive verändert?

Schäfer: Ja, auf jeden Fall. Eine ähnliche Erfahrung habe ich auch 2001 gemacht, als am 11. September die Anschläge auf das World Trade Center und das Pentagon in New York und Washington verübt wurden. Zu dieser Zeit habe ich in Costa Rica gearbeitet. Am Nachmittag des 11. September hielt ich eine Lehrveranstaltung mit Studierenden, alles fromme Evangelikale aus Lateinamerika, die die Ereignisse des Tages im Fernsehen verfolgt hatten. Das nahm ich zum Anlass, um mit ihnen darüber zu sprechen. Alle schwiegen, bis ein Chilene meinte: Wenn ich an den 11. September denke, dann an den 11. September 1973. Da wurde mithilfe der CIA eine demokratisch gewählte Regierung in Chile durch eine brutale Diktatur ersetzt. Ein Bolivianer sagte, dass auch er Ähnliches erlebt hat. Ein Guatemalteke meinte: Bei uns haben sich die USA im Jahr 1954 eingemischt, seitdem haben wir nichts als Diktatur, Mord, Totschlag und Folter. Einer nach dem anderen erzählte also seine Geschichte, und immer ging es um die Einmischung der USA. Sie sagten: Es tut uns herzlich leid um die Opfer, wir beten für die Angehörigen in New York und Washington. Aber die USA müssen kapieren, dass sie das Feuer selbst gelegt haben, das ihnen jetzt zu Hause Heim und Herd anzündet.

Terroranschlag der Al Quaida am 11. September 2001 auf das World Trade Center in New York.
Foto: epd-Bild/akg-images/Jason Hook

Das islamistische Terrornetzwerk Al-Qaida hat sich zu den Anschlägen bekannt. Es folgten zahlreiche weitere Terrorakte.  Religion und Gewalt werden heute in der öffentlichen Wahrnehmung vielfach gleichgesetzt. Was meinen Sie?

Hellmann-Rajanayagam: Vor ein paar Jahren habe ich mit Kollegen einen wissenschaftlichen Artikel veröffentlicht, der sich mit der Vermischung von Religion, Politik und Ideologie auseinandersetzt. Wir haben uns auf den Buddhismus bezogen, verbunden mit der Frage: Wirkt Religion gewalteskalierend oder gewaltdeeskalierend? Die Antwort ist natürlich: beides. Wie sich Potenziale entwickeln, hängt entscheidend von den gesellschaftlichen und politischen Verhältnissen ab. Das lässt sich mit Blick auf die Kolonialzeit in buddhistischen Ländern gut beobachten.

Was ist passiert?

Hellmann-Rajanayagam: Die europäischen Kolonialregierungen verstanden sich als säkular und religionsneutral, duldeten aber keine politischen Aktivitäten der einheimischen Bevölkerung. Wenn sie ihre politischen Anliegen artikulieren wollten, blieb ihnen nur die Möglichkeit, auf religiöser Ebene zu agieren. Diese Politisierung der Religion war eine Bewegung von unten, getragen von frommen Leuten, die sich trotz aller staatlichen Versprechungen benachteiligt fühlten. Im zweiten Schritt versuchten sie dann, die öffentliche Sphäre zu dominieren. Das wiederum führte zu Konflikten und schlug in Gewalt um, die dann auch im Namen der Religion ausgeübt wurde. Strukturell finden wir das bis heute: Denken wir nur an die Gewalttaten gegen Muslime in Myanmar, an denen sich buddhistische Gruppierungen beteiligen.

Herr Schäfer, Sie nicken die ganze Zeit.

Schäfer: Ja, das kann ich hundertprozentig unterschreiben. Wenn gesellschaftliche Gruppen keine Chance haben, ihre Anliegen politisch zur Sprache zu bringen, artikulieren sie sie religiös. Ein Beispiel dafür haben wir auch im Irak: Nach der Beseitigung von Saddam Hussein und der Auflösung der Baath-Partei bot sich der Bevölkerung keine Möglichkeit der politischen Artikulation. Die USA wandten sich in politischen Angelegenheiten ausschließlich an ethnisch-religiöse Gruppen, die dadurch erstarkten. Als sich die USA aus dem Irak zurückzogen, füllten diese Gruppen das Machtvakuum im Land. Auch das ist ein Grund dafür, dass der Islamismus und fundamentalistische Gruppen in der Region einen solchen Einfluss gewinnen konnten.

Was genau kennzeichnet Fundamentalismus?

Schäfer: Nach meiner Definition sind Fundamentalisten soziale und somit auch religiöse Akteure, die – erstens – Überzeugungen gleich welcher Art absolut setzen. Zweitens leiten sie daraus eine gesellschaftliche Dominanzstrategie ab, die das private und vor allem das öffentliche Leben dem Diktat ihrer Überzeugung zu unterwerfen versucht. Das erste Kriterium, das Absolut-Setzen eigener Überzeugungen, zeigt sich daran, dass Fundamentalisten weniger radikale Gläubige ihrer eigenen Religion oft als Häretiker und sich selbst als die wahrhaftig Gläubigen bezeichnen. Das muss nicht heißen, dass Fundamentalisten eine Schrift absolut setzen, die Bibel oder den Koran. Im heutigen christlichen Fundamentalismus in den USA werden oft direkte Offenbarungen des Heiligen Geistes geltend gemacht, die den entsprechenden Charismatikern beispielsweise beim Rasieren gekommen sind.

Findet sich das Gewaltpotenzial der Religionen auch in deren Schriften wieder?

Hellmann-Rajanayagam: Sicher. Was das Christentum angeht, brauchen wir ja nur die Bibel zu lesen. Da findet wir Gewalt jeder Art: Inzest, Vergewaltigung, Mord, was von Gott gefordert oder gewollt ist. Der Buddhismus dagegen wird im Westen meist als sehr friedfertig interpretiert. Aber auch in buddhistischen Lehrtexten finden sich Episoden, die von Gewalt erzählen. Etwa in der Sutra von einem Krieger, der gegenüber Buddha sein mörderisches Handeln rechtfertigt, weil er doch für eine gerechte Sache kämpfe und nur „böse“ Menschen töte. Buddha antwortet: Egal, was du machst, du wirst am Ende dein Karma abarbeiten müssen. Wenn du Gewalt ausübst, wirst du nach dem Tod in die Tierhölle hinabsteigen.

Das heißt aber doch, dass Buddha selbst für Gewaltfreiheit eintrat.

Hellmann-Rajanayagam: Ja, sicher. Buddha lehrt, dass wir bei einem Angriff auch die andere Wange hinhalten sollen. Das gilt vor allem für Mönche, die sich lieber totschlagen lassen als sich gewaltsam zu verteidigen. Für Laien aber gilt etwas ganz anderes. In einer etwa hundert Jahre nach Buddhas Tod in Sri Lanka entstandenen Überlieferung ist niedergelegt, dass ein Buddhist durchaus auch in den Krieg ziehen kann: Er muss sich dann allerdings auf sein Karma einstellen, das ihm für die Zukunft nichts Gutes verheißt.

Schäfer: Das erinnert an die lutherische Berufsethik, in der es heißt: Diene Gott, wo du hingestellt bist. Der Beruf wird demnach als Verlängerung des sonntäglichen Gottesdienstes verstanden. Die Zuordnung der Berufsgruppen legitimiert die Struktur der Gesellschaft, ist aber auch ein Gestaltungsfaktor. Ein gläubiger Lutheraner wird es als sinnvoll erachten, Gott durch die Ausübung seines Berufs zu dienen und sich in der Gesellschaft einzubringen. Sein Beruf ist gleichzeitig seine Berufung.

Wenn der Mensch sein Leben als Gottesdienst versteht, kann damit eine erhöhte Opferbereitschaft einhergehen. Birgt auch das Gewaltpotenziale?

Schäfer: Sicher. Aber ich neige in der Religionstheorie zur Auffassung, dass es nur ein wirkliches Spezifikum von Religiosität gibt: Das ist der Bezug zur Transzendenz, den der Gläubige selbst herstellt. Transzendenz – also jene Sphäre, die die menschliche Erkenntnisfähigkeit übersteigt – hat für ihn immer eine klare Gestalt und steht immer in einem konkreten Handlungszusammenhang. Das kann die Gesellschaftsstruktur stabilisieren, aber auch revolutionäre Bewegungen anheizen. Jemand kann auch eine erhöhte Bereitschaft entwickeln, als Märtyrer bei einem Selbstmordattentat zu sterben, wenn er fest davon überzeugt ist, dass er nach seinem Tod von Gott für sein Handeln belohnt wird. Religiöse Menschen mit dieser Art Transzendenzbezug kalkulieren nicht mit Unbekannten, weil es für sie keine Unbekannten gibt.

Hellmann-Rajanayagam: Märtyrertum an sich beinhaltet allerdings noch keine Gewalt gegen andere. Ein Märtyrer steht ja zunächst einmal nur für seine Überzeugung ein und nimmt dafür seinen eigenen Tod in Kauf. Bei Selbstmordattentätern dagegen haben wir eine pathologische Weiterentwicklung des Märtyrertums: Gläubige sind bereit und sehen es sogar als ihre Pflicht an, den erklärten Feind mit in den Tod zu reißen.

Welche Rolle spielen gruppendynamische Prozesse?

Hellmann-Rajanayagam: Religiöse Gemeinschaften sind in der Regel der Überzeugung, dass nur die eigene Gruppe die Zugangsrechte zur Transzendenz besitzt. Sie allein glauben zu wissen, was wahr und moralisch geboten ist. Infolgedessen wird mit zweierlei Maß gemessen: Es gibt Regeln für „uns“ und für „die anderen“.

Haben Sie dafür ein Beispiel?

Hellmann-Rajanayagam: Ja, wir brauchen uns nur das Epos über einen tamilisch-hinduistischen König aus Sri Lanka anzuschauen: Sein Reich wurde von einem singhalesischen König blutig erobert. Der war besorgt, durch den Tod anderer Menschen ein negatives Karma angesammelt zu haben. Aber die Mönche beruhigten ihn: Er habe ja keine Buddhisten getötet, sondern nur hinduistische Tamilen. Und die seien nichts anderes als Tiere, minderwertig also. So wurden die Morde an Andersgläubigen im Epos legitimiert.

Und heute?

Hellmann-Rajanayagam: Ähnliche Argumentationen finden wir auch heute, etwa während des Bürgerkriegs in Sri Lanka zwischen 1983 und 2009. Tamilische Separatisten haben in dieser Zeit um ihre Unabhängigkeit gekämpft. Die singhalesische Seite begründete die Auseinandersetzung gegen die überwiegend hinduistischen Tamilen nicht nur als Kampf für die Einheit des Landes, sondern auch als Kampf für die Einheit der Religion. Ich erinnere mich daran, dass ein hochrangiger Mönch mich einmal gefragt hat: „Was sollen wir denn machen? Wenn wir die Tamilen am Leben lassen, zerstören sie unsere Religion, den Buddhismus. Wir haben keine andere Wahl, als sie umzubringen.“

Schäfer: Diese Haltung finden Sie auch bei christlich-charismatischen Bewegungen in Guatemala während des Bürgerkriegs in den 1980er-Jahren. Sie wiederholten damals ständig, dass Gewerkschafter und Guerillakämpfer von Dämonen besessen seien. Einige Charismatiker beriefen sich auf göttliche Offenbarungen und rechtfertigten damit sogar die Bombardierung von indianischen Dörfern mit Napalm. Oder nehmen Sie beispielsweise Pat Robertson, einen US-amerikanischen Fernsehprediger, der seine große Zeit in den 2000er-Jahren hatte. Er trat auf mit der Botschaft, Gott habe ihm morgens mitgeteilt, dass die CIA nach Venezuela geschickt werden müsse, um den Präsidenten Hugo Chávez umzubringen. Das sei nötig, um einen Krieg um das US-amerikanische Öl zu vermeiden, das ungerechtfertigterweise unter venezolanischem Boden liege. Außerdem werde Venezuela in Zukunft islamistischen Terroristen als Basis dienen. Das war natürlich Unsinn. Aber so argumentierte Robertson als christlicher Fundamentalist.

Christlichen Fundamentalisten wird oft vorgeworfen, dass sie Menschen in ärmeren Teilen der Welt materielle Güter bringen, um sie zu bekehren. Was ist dran an diesem Vorwurf?

Hellmann-Rajanayagam: Es ist nicht verwerflich, Menschen vom eigenen Glauben zu erzählen. Aber es hat eben auch Kehrseiten: In Sri Lanka beispielsweise sind aktuell evangelikale Gruppen aus den USA unterwegs, die mit allen Mitteln versuchen, Menschen zum christlichen Glauben zu führen. Es ist kein Wunder, dass diese verführbar sind. Denn wer nichts zu essen hat, geht für einen geschenkten Sack Reis nur allzu gerne in die Kirche. Das wiederum wird von buddhistischer Seite als Angriff auf die eigene Religion verstanden. Als Gegenreaktion finden immer wieder Gewaltakte gegen Kirchen statt. So entsteht ein Kreislauf, bei dem man am Ende kaum sagen kann, wer Opfer und wer Täter ist.

Schäfer: Was den missionarischen Eifer angeht, habe ich in den 1980er-Jahren in Lateinamerika durchaus auch das Gegenteil beobachtet. Pfingstkirchen und andere evangelikale Gruppen haben keine materielle Unterstützung gegeben, sondern armen Mitgliedern auch noch den Zehnten abverlangt. Das stärkt die Selbstachtung dieser Mitglieder. Wenn es Nahrungsmittelhilfen gab, dann von der katholischen Kirche.

Immerhin mal ein positives Beispiel.

Schäfer: Zu Zeiten des Bürgerkriegs in Guatemala haben Menschen im Hochland einen traditionellen Volkskatholizismus gelebt, der stark durchsetzt war mit Riten aus der Maya-Religion und einer damit einhergehenden zyklischen Weltsicht. Gefeiert wurde die regelmäßige Wiederkehr des Gleichen. Während des Bürgerkriegs aber sahen sie zur Stunde des Morgenrituals dann Helikopter über die Bergkämme auf sich zukommen und Napalm auf ihre Dörfer werfen. Da war plausibel, was Pfingstprediger ihnen erzählten: „Wir sind am Ende der Zeiten angekommen. Es fallen Feuer und Schwefel vom Himmel, und der Herr wird in Kürze zurückkommen.“ Und dann glaubten die Leute zu verstehen, warum Napalm vom Himmel fällt. Sie werteten es als Zeichen der apokalyptischen Endzeit, genauso wie es in der biblischen Offenbarung geschildert wird. Das Leben bekam für sie wieder einen Sinn. Das half ihnen, die schweren Zeiten des Krieges zu überleben. Religion diente als Bewältigungsstrategie.

Hellmann-Rajanayagam: In Sri Lanka habe ich etwas Vergleichbares erlebt, nachdem der Krieg für die Tamilen unwiederbringlich verloren war. Rund 40.000 von ihnen waren massakriert worden. Es gab nichts mehr, womit sie Widerstand hätten aufbauen können. Nur die Religion bot eine Überlebensstrategie und Heilung in dieser hoffnungslosen Situation. Viele Frauen besuchten wahrsagende Orakel und befragten sie: „Was ist mit meinem Mann geschehen, der verschwunden ist oder gefoltert wurde? Was soll ich jetzt tun?“ Die Religion war für die Menschen die einzige Möglichkeit, ihr Leben weiterzuführen.

Wie kann es gelingen, den Kreislauf der Gewalt zu durchbrechen, der im Namen der Religionen geführt wird?

Schäfer: Religiös motivierte Gewalttaten sind in der Regel eine Folge sozialer und politischer Fehlentwicklungen. Deswegen müssen Regierungen zunächst einmal eine rechtskonforme Politik entwickeln, die sich an den Menschenrechten orientiert. Zudem müssen sie eine Außenpolitik entwickeln, die pluralismuskompetent ist – also fähig, fremde Kulturen wahrzunehmen und zu akzeptieren. Das bedeutet nicht, dass Staaten in ihrer Außenpolitik alles dulden. Aber Menschenrechtsverletzungen werden nicht durch völkerrechtswidrige Kriege gegen angebliche oder tatsächliche Diktaturen beseitigt.

Nachdem kurdische Einheiten Kaempfer des Islamischen Staat (IS) aus der Stadt Sindschar im Nordirak vertreiben konnten, nimmt der Jeside Shero Ibrahim Abdo Khalo nach einem Jahr und drei Monaten am 15.11.15 sein zerstörtes Haus in Augenschein und betet in seiner Verzweiflung. Foto: epd-Bild/Sebastian Backhaus

Was lässt sich fundamentalistischen Strömungen innerhalb der Religionen entgegensetzen?

Hellmann-Rajanayagam: In meinen Seminaren trete ich immer dafür ein, dass es verschiedene Interpretationen religiöser Quellen gibt. Ein christlicher Missionar hat mich in Sri Lanka einmal gefragt, warum wir Christen uns in Deutschland so defensiv verhalten. Ich bekam den Vorwurf zu hören, dass wir synkretistisch seien, also viel zu sehr die Sichtweisen anderer Religionen übernehmen würden. Da muss ich sagen: Indem wir anderen Menschen ihre Religion zugestehen, leugnen wir nicht die eigene. Wir haben eigene religiöse Werte, sagen aber: Ihr dürft eure haben, die brauchen wir euch nicht auszutreiben.

Schäfer: Ein ganz wichtiger Punkt ist die Fähigkeit, sich in die Perspektive einer anderen Person oder Gruppe  hineinzuversetzen. Oder, wie es in einem russischen Sprichwort heißt, „in den Stiefeln des anderen zu gehen“. Sich also in die Lebensbedingungen anderer Menschen hineinzuversetzen, um sich klarzumachen, unter welchen Bedingungen sie Entscheidungen treffen. Eine solche Form der Perspektivenübernahme ist eine tief in der Aufklärung verankerte Fähigkeit, die immer auch mit der Fähigkeit zur Selbstkritik im Lichte der Erfahrungen anderer verbunden ist.

Und wie kann man die Erkenntnisse zum Fundamentalismus zusammenfassen?

Schäfer: Dass der islamische Fundamentalismus auch eine Protestbewegung ist, bei der es um Teilhabe an menschenwürdigem Leben  und um Gerechtigkeit geht. Und dass der christliche Fundamentalismus meist hegemoniale Ansprüche anmeldet. Wir müssen uns allerdings davor hüten, die Bezeichnung Fundamentalismus wesenhaft irgendwelchen Gruppen zuzuschreiben. Fundamentalismus ist immer historisch bedingt. Wenn wir das erkennen, sind wir schon ein ganzes Stück weiter.